Michael Hesemann, Historiker und Autor
Offizielle Homepage

Wer Glauben und Geschichte zwanghaft trennt, der bestreitet das Wirken Gottes
Erwiderung auf Gerd Häfners „Lectio Brevior“

Von Michael Hesemann
 
 
Gerd Häfner lehrt „Biblische Einleitungswissenschaft“ an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München. Er ist ein Schüler von Lorenz Oberlinner, der Exegese in Freiburg lehrte und wiederum Schüler von Anton Vögtle war, der die „historisch-kritische Exegese“ des Protestanten Rudolf Bultmann auch an katholischen Fakultäten salonfähig machte. Oberlinner erregte 1975 Aufsehen, als er behauptete, die „Brüder“ Jesu, von denen in den Evangelien die Rede ist, seien leibliche Söhne Mariens,  die Jungfräulichkeit der Gottesmutter überhaupt nur symbolisch zu verstehen. Häfner geht mit der Zeit und führt einen Blog namens „Lectio Brevior – Aufzeichnungen eines Neutestamentlers“, in dem er regelmäßig die Positionen des von ihm mitunterzeichneten anti-römischen „Memorandums Freiheit“ von 2011 vertritt und gegen die romtreue katholische Publizistik polemisiert, in der er „theologische Zwerge“, „verkrachte Kommentatoren“ und „karriereorientierte Bischöfe“ verortet. In eben diesem Blog ging er am 23. Januar, also mit vierwöchiger Verspätung, auf mein Interview mit dem „Münchener Merkur“ vom 24. Dezember zu den historischen Hintergründen des Weihnachtsfestes ein. (http://www.lectiobrevior.de/2014/01/wie-man-geschichte-nicht-schreiben-soll.html) Nachfolgend meine Erwiderung:
 
Es ist zumindest originell, wenn ein Theologe einem Historiker vorschreiben will, wie er Geschichte zu schreiben hat. Ich fühle mich geehrt, dass er den gleichen Vorwurf auch Papst Benedikt XVI. machte, in seinem zynischen Kommentar zu dessen „Jesus von Nazareth“-Trilogie (http://www.deutschlandradiokultur.de/die-jesus-erinnerung-der-evangelien.1278.de.html?dram:article_id=192961). Tragisch aber wird es, wenn ein Historiker einen katholischen Theologen daran erinnern muss, was die Kirche lehrt. Denn das spielt bei Häfner, so scheint es, keine Rolle mehr.
Vordergründig zweifelt Häfner zunächst einmal an, dass die Familie der Gottesmutter zum „Hause Davids“ gehört. Dies behaupte ich aufgrund vierer Quellen und den daraus gezogenen Rückschlüssen:
  1. Dem Evangelium nach Lukas, dessen „Stammbaum“ Jesu (in Lk 3, 23-38) ich als biologischen Stammbaum Jesu durch Maria und juristischen Stammbaum Josefs nach seiner pro-forma Adoption durch Mariens Vater Eliachim=Joachim identifiziere.
  2. Das Protevangelium aus der Mitte des 2. Jahrhunderts, demzufolge Maria das einzige Kind des Davididen Joachim war.
  3. Die Tatsache, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde, wohin die Familie zur Steuerschätzung musste, da bei den Römern die Versteuerung immer dort erfolgte, wo Grundbesitz vorhanden war. Da Josef als Bauhandwerker (tekton) in Nazareth lebte, kann es sich dabei nur um ererbten Besitz Mariens handeln. Diese Annahme wird gestützt durch den Hinweis des Matthäus, die Heilige Familie hätte zunächst vorgehabt, nach der Flucht nach Ägypten nach Bethlehem zurückzukehren (siehe Mt 2,22). Nur die Machtübernahme durch den Herodessohn Archelaus veranlasste das Paar, sich stattdessen wieder in Josefs Heimatort Nazareth niederzulassen.
  4. Die Aussage des hl. Paulus, Jesus sei „aus dem Samen Davids dem Fleisch nach“ (Rom 1,3), was sich nicht auf die Adoption durch Josef beziehen kann.
Doch selbst die so eindeutige Feststellung des hl. Paulus in dem um 55 verfassten Römerbrief lässt Häfner nicht gelten. Der Theologe wörtlich: „Dass die Aussage von der davidischen Abstammung in Röm 1,3 nicht den Vater einschließen könne, müsste man Paulus erst erklären.“ Mit anderen Worten: Paulus konnte noch nichts von der Jungfrauenschaft Mariens wissen, weil sie ihr erst später angedichtet wurde.

Dem widerspreche ich entschieden. Denn schon im ältesten Evangelium, das Markus um 43 niederschrieb und dessen frühestes Fragment (7Q5) Experten auf ca. 50 datieren, wird Jesus als „Sohn der Maria“ (Mk 6,3) bezeichnet. Er ist damit der einzige jüdische Junge überhaupt in der Literatur des 1. Jahrhunderts, der nicht nach seinem Vater, sondern nach seiner Mutter benannt wurde – und das ausgerechnet  in Nazareth, wo man nur zu gut die „Familienverhältnisse“ kannte. Da Paulus 46/47 mit Markus auf Missionsreise war (Apg 13,4 ff.), ist auch anzunehmen, dass er zumindest den Inhalt des Markusevangeliums kannte, auch wenn er es in seinen Briefen nicht explizit zitiert. Auch Gal 4,4 („sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau“) ist kein Beweis „für das Gewöhnliche an der Menschwerdung“, wie Häfner behauptet (der ausgerechnet bei seinem Zitat die Worte „sandte Gott seinen Sohn“ auslässt), sondern für das Gegenteil: Denn den Vater, Gott, nennt der Völkerapostel an erster Stelle! Daher behaupte ich, dass Paulus sehr wohl von der Jungfräulichkeit Mariens wusste und dass Gal 4,4 kein „Gegenbeweis“, sondern ein Indiz dafür ist.

Dass Häfner das Protevangelium als geschichtliche Quelle nicht akzeptieren will, mag theologische, gewiss aber keine historischen Gründe haben. Denn zunächst sind für den Historiker auch „legendarische Texte“ Quellen, die um historische Ereignisse herum entstanden sein können. Auch die „Alexanderromane“ schildern etwa Phantastisches vor dem Hintergrund und im Kontext des historischen Alexanderfeldzuges. Dass das Protevangelium zum Beispiel eine ganz und gar unlegendarische, dafür aber astronomisch akkurate Beschreibung der Supernova des Frühjahrs 5 v.Chr. liefert, die der Astronom Prof. Kidger als Stern von Bethlehem identifiziert hat, verleiht ihm ebenso einen Wert als Quelle wie seine intime Kenntnis jüdischer Sitten und Gebräuche des 1. vorchristlichen Jahrhunderts. „Unbesehen“ will es niemand heranziehen, aber gewiss als judenchristliche „Familientradition“, die zweifelsohne einen historischen Kern besitzt.

Als „Verzweiflungstat“ bezeichnet Häfner meine Lesart der beiden Stammbäume Jesu. Natürlich könnte ich sie ebenso gut ignorieren, wie es gewisse Exegeten gerne machen, oder sie theologisieren – als hilflose Versuche, um jeden Preis Jesus als Messias erscheinen zu lassen,  der nun einmal nach jüdischer Vorstellung aus dem Hause Davids stammen musste. Dass das Fälschen von Stammbäumen geradezu kontraproduktiv gewesen sein könnte, da leicht zu widerlegen, kommt den „kritischen“ Exegeten gar nicht erst in den Sinn. Denn gerade die Juden hüteten sorgsam wie kaum ein anderes Volk ihre Ahnentafeln, die im Tempel aufbewahrt wurden (und dort auch für Jesu Gegner einsehbar waren). So konnte etwa der Jude Flavius Josephus in seiner um das Jahr 100 verfassten „Selbstbiografie“ behaupten: „Die Reihenfolge unseres Geschlechtes lege ich so vor, wie ich sie in den öffentlichen Verzeichnissen (%u1F10ν δημοσ%u03AFοις δ%u03ADλτοις) vorgefunden habe.“ Und Julius Africanus wusste, dass noch um 200 in Nazareth und Kochaba „Herrenverwandte“ lebten, die ihre Ahnentafeln wie einen Schatz hüteten. Gleich zweimal, unter Domitian im Jahre 96 n.Chr. und unter Trajan im Jahre 107, wurden Herrenverwandte vor den Statthalter gezerrt; nicht etwa, weil sie Christen waren, sondern als potenzielle Thronprätendanten, denn auch die Römer wussten, dass sie Abkömmlinge der jüdischen Königsfamilie waren. 

Nimmt man also an, dass die Stammbäume in Lk 3,23 ff und Mt 1,1 ff. nicht etwa „schlecht erfunden“ sind, sondern historische Dokumente sein könnten, stellt sich natürlich die Frage nach ihrer Widersprüchlichkeit. Man sollte sich freilich auch fragen, weshalb Lukas, der im Gefolge des Paulus fast drei Jahre (57-59) in Jerusalem ausharrte und gewiss jede Menge Zeit für Recherchen hatte, nicht einfach Matthäus zitiert; dass er die beiden Evangelien nach Markus und Matthäus kannte, deutet er im Vorwort zu seinem Evangelium an („Nachdem es schon viele unternommen haben, einen Bericht über die Ereignisse abzufassen…“, Lk 1,1). Doch die beiden Stammbäume unterscheiden sich nicht nur in der Nennung der Ahnen Josefs, sondern auch in ihrer Wortwahl. Matthäus benutzt als Bindeglied zwischen der Ahnenreihe den biologischen Begriff des „Zeugens“, bis er zu Josef kommt: „Jakob zeugte Josef, den Mann Marias, von der Jesus geboren wurde…“ (Mt 1,16). Er lässt also keinen Zweifel daran, dass seine Ahnenreihe der biologische Stammbaum Josefs, aber nur der juristische Stammbaum Jesu ist. Bei Lukas dagegen fehlt der Begriff des „Zeugens“. Nun kann man, wie es Häfner tut, süffisant bemerken: „auch ohne solchen Hinweis werden die meisten Leser allerdings eine Vorstellung über das Zustandekommen der Generationenfolge haben“. Das mag ja stimmen, aber es braucht nicht automatisch auch für Jesus zu gelten, von dem Lukas betont, er sei nur, „wie man annahm, ein Sohn Josefs“. In der Einheitsübersetzung folgt dann die Namensnennung der Ahnenreihe, in der Vulgata verbunden durch das „qui fuit“, „der war des“. Was uns zu der erstaunlichen Einsicht brächte, dass Josef zwei Väter hatte, nämlich Jakob (laut Mt 1,16) und Eli (lt. Lk 3,25). Oder beide Stammbäume schlecht erfunden sind. Oder es vielleicht eine dritte Lösung gibt.

Zugegeben, hier ist es das Protevangelium, das den Schlüssel liefert. Denn trotz legendarischer Ausschmückung entstand es offensichtlich im judenchristlichen Millieu der „Herrenverwandten“ und enthält Familientraditionen. Danach war Mariens Vater ein Davidide namens Joachim und Maria seine einzige Tochter. Josef wurde „aus den Söhnen Davids“ ausgewählt, um ihr, trotz ihres Keuschheitsgelübdes, zur Seite zu stehen. Und plötzlich ergibt alles einen Sinn.

Denn Joachim ist die graezisierte (und später latinisierte, worauf ich, zugegeben verkürzt, in meinem „Münchner Merkur“-Interview verwies; ein Interview, lieber Prof. Häfner, ist nun wirklich nicht der Ort für differenzierte etymologische Ausführungen) Form des jüdischen Namens Jojakim („Jahwe richtet auf“), der wiederum eine synonyme Variation von „Eljakim“, („Gott richtet auf“) ist. Der erste biblisch bezeugte Träger dieses Namens war König Eljakim, dessen Namen der Pharao in Jojakim änderte (2.Kö 23,34). Die Annahme, dass Davididen ihre Söhne nach einem ihrer Vorfahren benennen, ist gewiss nicht allzu weit hergeholt, wobei gewiss die ursprüngliche, nicht die vom ägyptischen Pharao diktierte Version des Namens bevorzugt wurde. Mariens Vater hieße dann tatsächlich Eljakim, Kurzform „Eli“, während man im griechischen Protevangelium die synonyme Version „Jojakim=Joachim“ benutzte. Dann aber bezieht sich der Stammbaum im Lukas-Ev auf die Ahnenreihe Mariens und nur indirekt auf Josef. Er ist damit auch der biologische Stammbaum Jesu und beweist, dass dieser tatsächlich, wie Paulus behauptete, „aus dem Samen Davids dem Fleische nach“ stammt.
Doch warum wird behauptet, Eli=Joachim sei Josefs Vater?

Häfner wirft mir vor, „nicht historisch zu denken“, weil ich Maria als Jüdin ernst nehme und ihren Status im Kontext der jüdischen Gesetze, Sitten und Gebräuche ihrer Zeit untersuche. Anlass dazu gibt nicht nur das Protevangelium, das Maria als einzige Tochter Joachims beschreibt, sondern auch das Neue Testament. Schließlich ist die Reise zur Steuerschätzung nach Bethlehem nur dann plausibel, wenn einer der beiden, Maria oder Josef, dort Land besaß. Von Josef ist das wohl eher auszuschließen, sonst hätte er nicht als Bauhandwerker in Nazareth gelebt. Brachte also Maria ererbtes Land in die Ehe?

Tatsächlich erscheint das jüdische Erbrecht als einzig plausible Antwort auf die Frage nach den beiden Stammbäumen wie für die beschwerliche Reise nach Bethlehem. In der Torah, dem jüdischen Gesetz, finden wir im Buche Numeri, Kapitel 36, den Präzedenzfall: die Geschichte der Töchter Zelofhads, eines Landbesitzers, der verstarb, ohne einen Sohn zu hinterlassen. Hier lautete das Urteil des Moses, das fortan für ganz Israel galt: „Und jedes Mädchen, das in einem der israelitischen Stämme zum Erbbesitz gelangt, muss einen Mann aus der Sippe seines väterlichen Stammes heiraten, damit die Israeliten durchweg ihren väterlichen Erbbesitz behaupten“ (Num 36, 8). Das hieße im Fall Mariens: dass sie als „Erbtochter“ mit einem Davididen verheiratet wurde, läßt darauf schließen, dass sie selbst eine Davididin war! Nach der gängigen Rechtspraxis ließ sich der Mann einer Erbtochter in das Geschlecht ihres Vaters einschreiben und bekam dadurch gewissermaßen einen zweiten Vater. Diese Praxis finden wir im Buch Nehemia (7,63) bezeugt, wo ein gewisser Barsillais „eine der Töchter des Gileaditers Barsillais zur Frau genommen (hat) und nach dessen Namen genannt wurde“. Es ist also mehr als plausibel, anzunehmen, dass uns gerade Lukas, der die Geburt Christi aus der Perspektive Mariens schildert (Matthäus dagegen wählt die Perspektive Josefs), nicht nur den juristischen Stammbaum Josefs, sondern auch den biologischen Stammbaum Mariens und damit Jesu überliefert.

Für Häfner darf aber gerade dies nicht sein. Es würde ja die „Kindheitsgeschichten“ Jesu plausibel erscheinen lassen. Stattdessen unterstellt er mir, ich würde „Schwierigkeiten eines Textes durch eine Fülle von Zusatzannahmen beseitigen, die durch den Text nicht gedeckt sind“. Dabei ist gerade das seine Methode! Er macht Josef zum leiblichen Vater Jesu, obwohl der Text das Gegenteil erklärt, er ignoriert jüdische Gesetze, die zur Zeit Jesu für alle Juden galten, er unterstellt den Evangelisten betrügerische Absichten, obwohl diese uns ihre Sorgfalt versichern (so beruft sich Lukas ausdrücklich auf „jene, die von Anfang an Augenzeugen … waren“ und verbürgt sich für seine saubere Recherche: Er sei allem „sorgfältig nachgegangen“, um es „der Reihe nach aufzuschreiben“, wolle er doch damit die „Zuverlässigkeit der Lehre“ aufzeigen, siehe Lk 1, 1-4).  Der simple Versuch, einen scheinbaren Widerspruch in den Quellen zu verstehen und im jüdischen Kontext plausibel zu erklären, ist bei Häfner unerwünscht. „Hesemanns Konstrukt hat nur den Sinn, die historische Zuverlässigkeit der beiden Stammbäume zu retten“, wirft er mir vor. Ich entgegne: Häfners Polemik hat nur den Sinn, sie um jeden Preis als legendarisch zu diffamieren. Sie dürfen nicht wahr sein, denn wenn sie es wären, wenn die Kindheitsgeschichten des Matthäus und Lukas vielleicht doch ein historisches Geschehen im Licht des Glaubens schildern, dann wäre Jesus von Nazareth tatsächlich der Sohn Gottes, dann müssten die Dogmen der Kirche wahr sein. Das ist offenbar für einen katholischen Universitätstheologen schwer schlucken und noch schwerer zu glauben. Ohne einen echten Grund zweifelt Häfner an, dass „die biblischen Texte historisch zuverlässige Aussagen treffen“. Eine solche Annahme sei nicht weniger als „ein Sprung hinter das 18. Jahrhundert“. Das heißt: Zurück in die Zeit des Glaubens! Aber auch: eine verbotene Infragestellung der materialistischen und atheistischen Doktrin der „Aufklärung“.

Wer Glauben und Geschichte zwanghaft trennt, der bestreitet das Eingreifen Gottes in die Geschichte. Damit entzieht er dem Glauben an eine Heilsgeschichte, an die Erlösung der Menschheit durch die Menschwerdung Gottes, ihren historischen Boden. Er bekräftigt mich in meiner Befürchtung, die Krise der Kirche, die in Wahrheit eine Krise des Glaubens ist, könne „hausgemacht“ sein. Ihr Ursprung sind die Hörsäle theologischer Fakultäten, in denen Zweifel gesät statt Wahrheiten vermittelt werden. Benedikt XVI., der wohl die Problematik der universitären Theologie besser als jeder andere aus eigener Anschauung und durch seine Tätigkeit als Präfekt der Glaubenskongregation kennt, hat eben dies erkannt, als er mit „Jesus von Nazareth“ das „Gegengift“ injizierte: Eine Exegese, die gleichermaßen auf dem Boden des Glaubens wie auf dem Boden der Geschichte steht. Das ist die Zukunft. Männer wie Häfner dagegen gehören einer unseligen Vergangenheit an, deren Scherben wir gerade erst zusammenkehren.