Michael Hesemann, Historiker und Autor
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2023

2023


15.-16.2.: Expedition zum Mosesberg in Midian

Er ist geformt wie eine Pyramide. Seine Spitze ist geschwärzt, so, als sei auf ihm eine Wolke aus Feuer niedergegangen. Der Jebal al-Makla (Arabisch: „Verbrannter Berg“) ist mit 2326 Metern einer der höchsten Berge Saudi Arabiens und ganz sicher der geheimnisvollste. Hier sprach Gott mit Moses, hier empfing der biblische Prophet die Zehn Gebote - davon ist zumindest der deutsche Historiker Michael Hesemann (59) überzeugt, der hier als erster Europäer seit hundert Jahren forschte. In seinem Buch „Die Bibel hat recht“ legt er Beweise vor.

„Seit der Spätantike galt der Jebal al-Musa auf der Halbinsel Sinai als der ‚echte‘ Berg der Zehn Gebote“, weiß Hesemann. „Dort wurde im 6. Jahrhundert das Katharinenkloster gebaut, um die vielen Pilger zu beherbergen. Doch Spuren des Exodus, Spuren der zehntausenden Israeliten, die laut der Bibel ein Jahr lang vor dem Gottesberg Horeb lagerten, sucht man dort vergebens. Als die Israelis 1967 den Sinai besetzten, schickten sie ihre besten Archäologen dorthin. Sie wollten unbedingt Hinterlassenschaften ihrer Vorfahren aus der späten Bronzezeit finden, schon um ihren Anspruch auf den Sinai zu legitimieren. Doch vergebens. Man fand nichts, was auf eine bronzezeitliche Präsenz eines ganzen Volkes im Schatten des sogenannten Mosesberges hindeuten könnte. Keine Gräber, keine Inschriften, keine Tonscherben – nichts! Offensichtlich war man anderthalb Jahrtausende lang zu dem falschen Berg gepilgert.“

Der Österreicher Alois Musil, katholischer Priester und renommierter Arabienforscher, war der Erste, der zu Anfang des 20. Jahrhunderts auf die falsche Zuschreibung hinwies. Denn laut der Bibel stieß Moses auf den Berg, als er die Schafherde seines Schwiegervaters Jitro hütete. Jitro war der Hohepriester von Midian. Nach Midian war Moses vor den Ägyptern geflohen, als er einen der Aufseher des Pharao erschlagen hatte. Wo Midian lag, darin sind sich alle historischen Quellen einig: Am Ostufer des Golfes von Akaba, im Nordwesten des heutigen Saudi Arabien, dort, wo sich heute die Stadt al-Bad’a befindet. Tatsächlich zeigen die Einheimischen dort noch heute den „Brunnen des Moses“ und die „Höhle des Jitro“. Und auch jüdische Bibel-Kommentatoren waren sich einig, dass der Moses-Berg in Midian lag. Erst die Christen kamen im 4. Jahrhundert darauf, ihn auf der Halbinsel Sinai zu lokalisieren, in den Grenzen des Römischen Reiches, was aus ihm zumindest ein sicheres Pilgerziel machte, während der Jebal al-Makla im Gebiet kriegerischer Beduinenstämme lag.

Hesemann: „Natürlich ist es idiotisch, anzunehmen, Moses habe die Herde seines Schwiegervaters aus Midian über 350 Kilometer weit auf den Sinai getrieben, über steinige und knochentrockene Wüsten, in die Sandwüste vor dem Jebal al-Musa, wo rein gar nichts wächst, wo es kein Wasser gibt, die Schafe also verdurstet wären, wo ganz in der Nähe ägyptische Türkisminen lagen, von den Soldaten des Pharao bewacht, nur um es spätantiken Pilgern bequemer zu machen. Nein, Moses wird getan haben, was die Beduinen von Midian noch heute machen: Im Winter ließ er die Herden im Küstengebiet grasen, im Sommer führte er sie auf die fruchtbare Hochebene auf der Ostseite des Madyan-Gebirges, zu dem auch der Jebal al-Makla gehört. Dort und nur dort müssen wir nach dem Gottesberg Horeb suchen!“

Seit Alois Musil waren es vor allem amerikanische Forscher, die über den benachbarten Jebal al-Lawz als historischen Moses-Berg spekulierten. Hesemann aber ist überzeugt, dass nur der Jebal al-Makla den biblischen Beschreibungen entspricht. „Er erhebt sich so majestätisch über dem Bergmassiv, dass er sofort jeden Besucher in seinen Bann zieht“, beschreibt ihn der deutsche Historiker. Anders als die israelischen Archäologen auf dem Sinai, wurde er hier fündig: „Der ganze Berg ist von archäologischen Stätten umgeben, die von arabischen Archäologen zumindest zu einem großen Teil in die Bronzezeit datiert werden. Dazu gehört ein großes Gräberfeld, ein Brandopferaltar zu Füßen des Berges, hunderte Steinmörser, mit denen das Korn für die Brotherstellung gemahlen wurde und Schmelzöfen für die Metallproduktion. Eine Felsenplattform ist mit Zeichnungen von Rindern oder Kälbern bedeckt, man erinnert sich sofort an den Vorfall vom Goldenen Kalb. Überall finde sich Inschriften, viele davon in einer Vorläuferschrift des Hebräischen. Das alles deutet auf eine längerfristige Präsenz einer größeren Menschenmenge an dieser Stelle hin“, erklärt Hesemann.

Felsbilder vom goldenen Kalb, frühhebräische Schrift, ein siebenarmiger Leuchter

„Noch heute treiben die Beduinen ihre Schafe auf die ausgedehnte Hochebene auf der Ostseite des Jebal al-Makla. Früher strömte Wasser aus einer Quelle am Hang des Berges und ergoss sich in einen kleinen See. Noch heute ist die Ebene wasserreich und fruchtbar, überall wachsen Sträucher und Gräser. Kein Wunder, dass Moses hierher die Herde seines Schwiegervaters trieb.“
Der Fluss, der vom Berg auf die Ebene strömte, wird auch im Buch Exodus erwähnt. Doch es gibt noch weitere Übereinstimmungen. So erwähnt die Bibel einen Felsspalt, in dem Moses Schutz suchen sollte, als Gott in Seiner Herrlichkeit über ihn hinweg zog. Einen solchen Spalt zwischen zwei Felsen gibt es auf dem Gipfel eines Vorberges, oberhalb einer Höhle wie jener, in der später der Prophet Elias gelebt haben soll, als er seine Gotteserfahrung am Horeb hatte.


Doch das eindrucksvollste Indiz für seine These fand Hesemann auf der Westseite des Berges, die, anders als das Hochplateau im Osten, eine trockene Wüste ist. „Das Buch Exodus sagt, dass die Israeliten auf dem Weg zum Gottesberg in Refidim lagerten, wo es so trocken war, dass sie Moses beschuldigten, sie in den sicheren Tod zu führen. Das muss auf der anderen Seite des Horeb gewesen sein, denn anschließend heißt es, auf Geheiß Gottes ging Moses zu „dem Felsen am Horeb“, schlug mit seinem Stab auf ihn und, siehe da, Wasser quoll aus dem Stein. Tatsächlich befindet sich auf der Westseite des Jebal al-Makla eine große, trockene Ebene, wo die Israeliten gelagert haben könnten“, verrät Hesemann. „Südlich davon wird die jetzt felsige Landschaft von einem gigantischen, 20 Meter hohen, mühlsteinförmigen Felsen überragt, der in der Mitte gespalten ist. Von diesem Felsen ging ein Wasserstrom aus, von dem noch Auswaschungen im Gestein zeugen. Noch heute existiert hier ein Rinnsal, in dem Pflanzen wachsen. Auf dem Sinai gibt es keinen Felsen, der den biblischen Beschreibungen entsprechen würde, nur hier in Saudi Arabien. Darum bin ich mir sicher, dass es in Midian war, wo Moses Gott begegnete und das Gesetz für das Volk Israel empfing.“
 
Die Einheimischen wird es freuen: Seit 2020 ist der Nordwesten Saudi Arabiens für Touristen geöffnet. Der „Felsen am Horeb“, aus dem Moses Wasser strömen ließ? Der Historiker Michael Hesemann ist überzeugt, den biblischen Gottesberg lokalisiert zu haben.



17.1.-23.1.: Rückkehr ins Heilige Land

Nach dreijähriger Corona-Pause sind endlich wieder Reisen nach Israel möglich - und Hesemann ergriff sofort die Gelegenheit, die Schauplätze seines Bestsellers "Die Bibel hat recht" erneut unter die Lupe zu nehmen. Zu den besuchten Stätten gehörten natürlich, wie es sich für jede Israel-Reise gehört, die Grabeskirche in Jerusalem und die Verkündigungsbasilika in Nazareth, außerdem Tabgha am See Genesareth und den Berg der Seligpreisungen. Zudem nahm Hesemann an der orthodoxen Wasserweihe am Jordan teil, die der griechisch-orthodoxe Patriarch von Jerusalem jedes Jahr am Vortag des Festes der Taufe des Herrn (nach dem orthodoxen Kalender: 19. Januar) vornimmt. Als erster deutscher Historiker inspizierte er die jüngsten Ausgrabungen in el-Araj am Nordostufer des Sees Genesareth, das von vielen Experten für das biblische Bethsaida gehalten wird. Tatsächlich legten Archäologen hier eine Kirche aus dem 4. Jahrhundert frei, von der es bei frühmittelalterlichen Pilgern, auch dem Eichstätter Bischof Willibrod, heißt, sie sei über dem Geburtshaus der Apostel Petrus und Andreas errichtet worden.
Im Mittelpunkt der Reise aber standen die alttestamentlichen Stätten, die im Zentrum von Hesemanns Bibel-Buch stehen: Dan in Galiläa, Megiddo in der herrlichen Jesreelebene, Jesreel selbst, Jericho im Westjordanland, Lachisch südwestlich von Jerusalem, den Sommerpalast der jüdischen Könige in Ramat Rachel auf dem Weg nach Bethlehem und die spektakuläre Ausgrabung von Khirbet Qeiyafa bet Beth Shemesh im ehemaligen Grenzgebiet zum Philisterland, das der jerusalemer Archäologe Prof. Dr. Yosef Garfinkel als Gründung König Davids identifizierte. Hesemann traf Garfinkel in seinem Hotel in Jerusalem, dem päpstlichen Gästehaus Notre Dame, und wurde von diesem zu einem Besuch im Archäologischen Institut der Hebräischen Universität. Jerusalem eingeladen.
 Hesemann mit dem Archäologen Prof. Dr. Yosef Garfinkel


5i.1.: VATICAN NEWS interviewt Hesemann zum Tod Benedikts XVI.
https://www.vaticannews.va/en/church/news/2023-01/benedict-xvi-a-model-of-holiness-michael-hesemann-interview.html

Während andere aus einer kurzen Begegnung mit Papst Benedikt ganze Bücher konstruierten (Markus Lanz/Manfred Lütz), zog Hesemann es vor, persönliche Begegnungen und private Gespräche auch weiterhin als solche zu behandeln. Tatsächlich gab es nur einen Autoren, der seit dem Rücktritt des Ratzinger-Papstes diesen interviewen durfte, und das war sein persönlicher Biograf Peter Seewald. Als ihn allerdings VATICAN NEWS, der amtliche Pressedienst des Heiligen Stuhls, um ein Interview bat, konnte Hesemann nicht absagen - und beschrieb dem internationalen Leserpublikum den deutschen Papst als "Vorbild der Heiligkeit". Das ganze Interview finden Sie im o.g. link!



5.1.: Abschied von Papst Benedikt: Das Requiem in Rom


Es ist kalt an diesem Morgen, bitterkalt. Und das, obwohl die ersten Januartage des Jahres 2023 in Rom eher mild waren, am Vortag sogar die Sonne schien. Doch jetzt hatte sich eine Nebeldecke über die Ewige Stadt gelegt wie eine Wolke, die vom Himmel hinabgestiegen ist und uns alle in sich aufnahm, die wir, noch im Schutze der Dunkelheit, nur ein einziges Ziel kannten: Den Petersplatz, um Abschied zu nehmen von dem letzten Giganten des Christlichen Abendlandes, dem letzten Großen des 20. Jahrhunderts nach dem Tod von Michail Gorbatschow und Queen Elizabeth II. im Spätsommer. Ausgerechnet am letzten Tag des Jahres, zu Silvester, verstummte seine schwach gewordene Stimme für immer, erlosch das Licht seiner Weisheit, kehrte seine unsterbliche Seele zu ihrem Schöpfer zurück, wo er endlich dem begegnen konnte, den er sein Leben lang gesucht hatte.

Benedikt XVI. war tot. Knapp zehn Jahre nach seinem überraschenden Rücktritt im Februar 2013, zehn Jahre, die er zurückgezogen im Kloster Mater Ecclesiae in den vatikanischen Gärten verbracht hatte, um, wie es sein treuer Sekretär Georg Gänswein einmal beschrieb, wie eine Kerze langsam zu verlöschen, hatte er diese Welt für immer verlassen, um ins Haus des Vaters einzuziehen. Am 1. Januar war sein Leichnam in der Hauskapelle seines Klosters aufgebahrt worden, am 2. Januar überführte man ihn in den Petersdom, wo sein Katafalk drei Tage lang vor dem Papstaltar und dem Grab des heiligen Petrus stand.

Rund 200.000 Gläubige standen in diesen Tagen oft stundenlang in einer endlos erscheinenden Warteschlange, um für ein paar Sekunden Abschied zu nehmen, bevor die Ordnungskräfte sie zum Weitergehen aufforderten. Nur wenige Privilegierte, meist Kirchenmänner, Politiker und enge Vertraute, hatten das Glück, in eine der Stuhlreihen zu seiner Linken oder Rechten gelassen zu werden, wo man beten für und stille Zwiesprache mit dem Verstorbenen halten konnte.
Auch ich war an diesem Montag nach Rom aufgebrochen, wo ich am Dienstagabend, nach fünfzehnstündiger, durch eine Nacht in Mailand unterbrochener Autofahrt endlich eintraf. So hatte ich den Mittwoch ganz dem stillen Abschied vorbehalten, lediglich unterbrochen durch eine Messe im Campo Santo, dem deutschen Friedhof auf dem Vatikangebiet. Sie zelebrierten zwei Bischöfe seiner bayerischen Heimat, Rudolf Voderholzer (Regensburg) und Stefan Oster (Passau), vor hunderten Pilgern aus ihren Diözesen und man ahnte, wiewohl sich Benedikt XVI. in ihrer Mitte gefühlt hätte. Bayern, das war für den Mann aus Marktl am Inn immer der irdische Widerschein des Paradieses, ein von Gott besonders gesegnetes Fleckchen Erde, das ihn an die Unbeschwertheit seiner Kindheit in einem einfachen, aber liebevollen Elternhaus erinnerte. Nur der Himmel, davon war er überzeugt, konnte noch schöner sein.

Noch einmal kehrte ich danach in den Petersdom zurück, um ihn zum letzten Mal auf Erden zu sehen. Erst vor drei Wochen hatte ich ihn in seinem Klösterchen besucht, das Glück gehabt, eine Stunde mit ihm zu verbringen, seinen mit schwacher Stimme eher gehauchten, aber klugen Antworten gelauscht, auf die, was mich alarmierte, stets ein hüstelndes Röcheln folgte. So klar sein Geist war – er konnte sich etwa noch bestens erinnern an ein Streitgespräch des im Oktober verstorbenen Paters Peter Gumpel mit Hans Küng auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil vor 60 Jahren – so erschöpft, ja verbraucht wirkte sein fragiler Körper.


Seine Haut wirkte fast durchscheinend, seine Hände, die ich zum Ringkuss ergriff, fühlten sich kalt und schwach an. Ich fühlte tiefste Dankbarkeit, aber auch unendliche Traurigkeit, denn ich wusste, dass es unsere letzte Begegnung sein würde. So dankte ich ihm noch einmal für die Jahre der Inspiration und für alles, was ich ihm zu verdanken habe, denn ohne ihn wäre ich nie der geworden, der ich heute bin. Ich bat ihn, für mich zu beten, und versicherte ihn meiner Gebete. Erzbischof Gänswein brachte mich noch an die Tür und teilte meine Sorge: Nach menschlichem Ermessen wäre es wohl wirklich mein letzter Besuch. Fröstelnd und mit schwerem Herzen stieg ich die Treppen hinunter zur Auffahrt des Monastero, wo eine Limousine der Schweizergarde auf mich wartete.

Und jetzt lag sein Leib vor mir, leblos und kalt, während, das spürte ich, seine Seele bereits im Himmel war und für uns alle betete, die wir für ihn beteten. Die von Grabenkämpfen zerfurchte katholische Welt war wieder eins geworden, zumindest für ein paar Tage zu einer großen Familie, vereint in der Trauer um den verschiedenen Groß-Vater, a.k.a. Papa emerito.

Als ich abends mit Kollegen und Vatikan-Insidern zusammensaß, begriff ich, dass auch diese Einheit nur ein trügerischer Schein war. Während die einen, zu denen ich zählte, Benedikt XVI. am liebsten so schnell wie möglich zur Ehre der Altäre erheben und zum Kirchenlehrer ernannt sehen würden, arbeiteten andere bereits an der Demontage des deutschen Papstes. Das zeigte sich auch in der Debatte, wie der erste „Papa emerito“ der Geschichte denn beigesetzt werden sollte, schließlich gab es dafür keine Präzedenzfälle. Sollte es eine Papstbestattung sein wie 2005 bei Johannes Paul II., ein Weltereignis mit Staatsoberhäuptern aus aller Welt und Hunderttausenden Gläubigen?

Oder war eine „abgespeckte“ Version vorzuziehen, so schlicht und still wie möglich, wie es dem Vernehmen nach der Verstorbene selbst, freilich für seine Bescheidenheit bekannt, gewünscht haben soll? Schon die dreitägige Aufbahrung – bei Johannes Paul II. waren es acht Tage – zeigte an, dass man sich für Letzteres entschieden hatte. Auch auf Staatsgäste wollte man verzichten und so wurden nur die Regierungen Italiens und Deutschlands eingeladen, samt der bayerischen Landesregierung, um das Geburtsland des Ratzinger-Papstes zu vertreten. Nicht einmal die Vatikan-Mitarbeiter hatten frei am Tag der Beerdigung, um angemessen Abschied nehmen zu können.

Dazu passten die eisige Kälte und der gespenstisch graue Nebel dieses Morgens, der sich auch im Verlauf des Vormittags nur wenig lichtete. Der Schweizergardist, der mich und eine kleine Gruppe von Freunden an der Porta Sant Anna in Empfang genommen hatte, führte uns in die erste Reihe des „Bayerischen Blocks“, der direkt zu Füßen des Sagrato, der Altarplattform auf dem Petersplatz, lag und den Landsleuten Benedikts XVI. vorbehalten war.

Dort warteten schon diverse Kompanien bayerischer Gebirgsschützen, deren Ehrenmitglied der Ratzinger-Papst gewesen war und die ihn fast jedes Jahr zu seinem Geburtstag in den vatikanischen Gärten besuchten, um ihn dort mit Blasmusik und Bier zu feiern. Auch andere Trachtengruppen, Blaskapellen und Verbände der freiwilligen Feuerwehr aus Oberbayern waren gekommen und brachten ein letztes Mal den urkatholischen Geist und die Folklore des Freistaats in das Zentrum der Weltkirche. Das bayerische Pontifikat hatte schon 2013 geendet, doch von diesem Tag an sollte es endgültig der Geschichte angehören. Mir wurde schwer ums Herz bei der Vorstellung, dass nie mehr eine Trachtenkapelle von der Isar oder dem Inn im Schatten des Petersdomes spielen würde.
Allmählich trafen auch die etwa 100 Kardinäle, 400 Bischöfe und etwa 1400 Priester ein, die bei diesem Requiem konzelebrieren sollten. Hatte ich eben noch Heimatgefühle, war jetzt die Stunde der Weltkirche gekommen. Fremde Gesichter aller Hautfarben zogen an mir vorüber, Bewohner eines jeden der fünf Kontinente wohl, sie alle Teil unserer großen, katholischen Familie, die gerade ihren weisen Großvater verloren hatte. 

Gegen 9.30 Uhr verstummte das vielsprachige Gemurmel auf dem Petersplatz, als unter dem Geläut der Totenglocke von zwölf Trägern der schwere Zypressensarg mit dem Leichnam des Papstes auf den Platz gebracht wurde. Er glich dem, in dem vor fast 18 Jahren Johannes Paul II. bestattet worden war, und selbst der Teppich, auf den man ihn stellte, war derselbe. Dann betraten Erzbischof Gänswein und ein päpstlicher Zeremoniar die Bühne und legten das aufgeschlagene Evangeliar auf den Sarg, dass dieses Mal nicht, wie bei Johannes Paul, vom Wind wieder zugeschlagen wurde. Kein Lüftchen regte sich an diesem Morgen, zu schwer hingen die Nebelwolken über der Stadt.

Der Sekretär und treue Freund Benedikts, der gewissermaßen zu seinem Ziehsohn geworden war und jetzt seinen Vater verloren hatte, verbarg seine Trauer nicht. Noch einmal kniete „Don Giorgio“ nieder, küsste den Sarg, bevor er sich, gebeugten Hauptes, zurück an seinen Platz begab, wo Schwester Birgit Wansing, die Sekretärin Benedikts XVI., und die vier Laienschwestern der „Memores Domini“, die den Haushalt im Klösterchen besorgt hatten, auf ihn warteten.

Erst jetzt lichtete sich der Nebel und ließ, zunächst durch einen kreuzförmigen Spalt, die Sonne durch. Sogleich spiegelte sie sich wider in der von einem Kreuz gekrönten goldene Erdkugel auf der Spitze der Kuppel Michelangelos, die jetzt, im sanften Morgenlicht, ein wenig an das himmlische Jerusalem erinnerte. Irrte auch die Welt durch die Nebel der Zweifel und Irrtümer, sehnte sich die Kirche, zitternd der Kälte des materialistischen Zeitgeistes ausgesetzt, nach dem Licht und der Wärme des Himmels, so hatte der große Lotse Benedikt, ein Leuchtturm der Wahrheit in seiner Zeit und darüber hinaus, dieses Ziel, die Herrlichkeit Gottes, gerade erreicht.

Irgendwann riss dann auch der kreuzförmige Spalt auf und ließ die Sonne als mattweiße Scheibe, einer Hostie gleich, jenseits der Nebelschwaden erscheinen, so als weise das Sakrament uns den Weg in den Himmel. Papst Benedikt, der überzeugt war, dass Gott auch in Zeichen der Natur zu uns sprach, hätte dieses meteorologische Schauspiel gefallen. Unvergessen, wie am Himmel ein Regenbogen erschien, als er in Auschwitz als Deutscher und Papst Gott um Vergebung für die Gräuel der Schoah anrief. Oder wie am Tag seines Rücktritts der Blitz in den Petersdom einschlug und das Ende einer Ära und den Beginn der Endzeit signalisierte.
Nach dem Einzug der Kardinäle betrat auch Papst Franziskus den Petersplatz, genauer gesagt: Er wurde im Rollstuhl zu sein
em weißen Lederthron gebracht. Das feuchtkalte Wetter muss ihm zugesetzt haben, ganz sicher auch der Tod seines geschätzten Vorgängers, der ihm die eigene Sterblichkeit vor Augen hielt. So wirkte er die nächsten anderthalb Stunden lang eher starr und unbeweglich, während stellvertretend für ihn Kardinal Re, der Dekan des Kardinalskollegiums, die Totenmesse zelebrierte. Selbst ein paar Schritte hinunter zum Sarg waren Franziskus unmöglich; erst ganz am Ende, als dieser an ihm vorbei zurück in die Basilika getragen wurde, legte er segnend seine Hand auf ihn und erwies ihm still seine Referenz.

Lediglich die Predigt hielt der Papst und vielleicht war auch das ein Fehler. Zu viele auf dem Platz hatten noch die Abschiedsworte Kardinal Ratzingers an Johannes Paul II. vom 8. April 2005 in den Ohren, die alle, die sie hörten, zutiefst berührten. Sie spiegelten die Jahre der engen Freundschaft zwischen dem Polen und dem Deutschen wider, zeugten von Liebe und Respekt zweier Brüder im Geiste. Vor allem aber sprachen sie jedem von den 3,5 Millionen Pilgern, die auf dem Petersplatz, in den umliegenden Straßen und in ganz Rom versammelt waren, um Abschied zu nehmen, zutiefst aus dem Herzen. Als sie mit der Verheißung „Wir können sicher sein, jetzt steht Johannes Paul am Fenster des Hauses des Vaters und sieht uns und segnet uns. Ja, segne uns, Heiliger Vater!“ schlossen, hatten wir alle Tränen in den Augen und mancher flüsterte damals, vorausahnend, wie es dann auch kommen würde: „Habemus Papam“.

Umso nüchterner, im Vergleich, Franziskus, der stets ein Mann der Gesten, nie aber der großen Worte gewesen war. Bis auf den letzten Satz hätte man die gleiche Predigt bei der Bestattung jedes beliebigen Kardinals, eines Bischofs oder auch „des Metzgers von nebenan“, wie anschließend ein deutscher Kardinal nicht ganz zu Unrecht spöttelte, halten können. Nur ihre letzten Sätze versöhnten. Sie sprachen von der „Salbung und Weisheit, dem Feingefühl und der Hingabe, die er uns im Laufe der Jahre zu schenken wusste“ und endete mit den ergreifenden Worten: „Benedikt, du treuer Freund des Bräutigams, möge deine Freude vollkommen sein, wenn du Seine Stimme endgültig und für immer hörst!“

Es war ein schlichtes und feierliches Requiem, zelebriert in Latein, der Sprache der Weltkirche, so wie es sich Benedikt XVI. wohl gewünscht hat. Gewiss, er war schon immer ein Mann der leisen Töne gewesen, einer, der sich nicht so wichtig nahm. So traue ich ihm durchaus zu, den Zeitpunkt seines Todes gewusst gewählt oder im Gebet erbeten zu haben: Nach Weihnachten, um nicht der ganzen Christenheit die Weihnachtsfreude zu nehmen und das ihm liebste Fest zu überschatten, am Silvestertag, als auch der letzte Jahresrückblick geschrieben war und zu früh, um in die Chroniken von 2023 aufgenommen zu werden, zwischen den Jahren wie sein Pontifikat zwischen den Zeitaltern lag, dem Gestern und dem Morgen.

Die stille Trauer lag ihm mehr als der tränenreiche Abschied. Und trotzdem glaube ich, dass er mehr verdient hätte. Schließlich wurde nicht etwa, wie immer wieder betont wurde, der „Papa emeritus“ zu Grabe getragen, sondern der (vorletzte) Papst, der 265. Nachfolger Petri. Genau wie ein emeritierter Bischof ein reguläres Bischofsbegräbnis und nicht etwa die „abgespeckte“ Version erhält, hätte der Theologenpapst, den zukünftige Generationen als Kirchenlehrer ehren werden, ein Staatsbegräbnis erster Klasse verdient, genau wie sein Vorgänger und sicher auch sein Nachfolger.

Erst als zum Abschluss der Totenmesse der Sarg von den zwölf Trägern in den Petersdom gebracht wurde, hatte die manchmal befremdliche Emotionslosigkeit dieser Feier ein Ende. Jetzt erscholl der Applaus der 60.000 Gläubigen, wurden Transparente enthüllt. „Danke, Papst Benedikt“, war darauf zu lesen, aber auch „Santo Subito“ und „Benedetto XVI – Dottore della Chiesa“. Als dann noch die Blaskapelle der Gebirgsschützen die Bayernhymne „Gott mit Dir, Du Land der Bayern“ anstimmte, hatte auch ich Tränen in den Augen. Da war es wieder, dieses „Benedetto“-Gefühl, das acht goldene Jahre lang die Kirche zur Heimat unserer Freude gemacht hatte. Und vielleicht stand jetzt auch er am Fenster des Hauses des Vaters und segnete uns. „Ja, segne uns, geliebter Papst Benedikt!“, entfuhr es mir, „Vergelt’s Gott für alles! Und bete für uns und die Kirche, in Deutschland und in der ganzen Welt, dass sie zurückfindet auf den Kurs, den der Heilige Geist durch Dich ihr gewiesen hat!“

Der Sarg wurde ein wenig später in den Grotten des Petersdomes beigesetzt, dort, wo vor seiner Seligsprechung auch Johannes Paul II. geruht hatte. Am nächsten Morgen wurde im Petersdom das Fest der Erscheinung des Herrn gefeiert, das an die drei Weisen erinnerte, die dem Stern folgten und den kindgewordenen Schöpfer des Universums in der Krippe fanden. Seit dem darauffolgenden Sonntag pilgern tausende Gläubige zum Grab des bescheidenen Bayern, über dem ein Relief der Gottesmutter wacht. Seine Weisheit ist für unsere Generation zum Stern von Bethlehem geworden.