Michael Hesemann, Historiker und Autor
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Deutschland und der Völkermord


Interview mit Michael Hesemann
 
  1. Sie beschreiben in Ihrem neuen Buch »Völkermord an den Armeniern« das, wie Sie sagen, größte Verbrechen des Ersten Weltkriegs. Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?

Durch einen Zufall. Ich arbeite seit 2008 im Vatikanischen Geheimarchiv. Mein ursprüngliches Thema war Eugenio Pacelli, der Mann, der später Papst Pius XII. werden sollte, und der von 1917 bis 1929 Apostolischer Nuntius in München und Berlin war.  Dabei stieß ich auf ein Dokument, das mich sehr beeindruckte. Es war der glühende Appell des damaligen Erzbischofs von Köln, Felix Kardinal von Hartmann, an den damaligen Reichskanzler, weitere Ausschreitungen gegen die Armenier beim türkischen Verbündeten zu verhindern. Darin schrieb Kardinal von Hartmann, die „Verfolgung der Armenier im Jahre 1915“ würde „an Grausamkeit den Christenverfolgungen der ersten christlichen Jahrhunderte“ nicht nachstehen. Es seien „Gräuel vor Gott“,  ja „himmelschreiende Gräuel“, die zu verhindern die Reichsregierung moralisch verpflichtet sei, wolle sie nicht „vor Gott und der Geschichte“ für diese verantwortlich gemacht werden. Später erfuhr ich, dass Kardinal von Hartmanns Nichte als Missionsschwester in Mossul gedient und er offenbar aus erster Hand von den Gräueln des Völkermordes erfahren hatte. Natürlich war davon auszugehen, dass noch weitere  Ordensleute und natürlich die Vertreter der mit Rom unierten Armenisch-Katholischen Kirche den Heiligen Stuhl über die größte Christenverfolgung des frühen 20. Jahrhunderts informierten. Diese Berichte mussten sich im Vatikanarchiv befinden. Also machte ich mich auf die Suche danach und wurde fündig – über 2000 Seiten konnte ich für mein Buch auswerten.
 
  1. Die genaue Zahl der Opfer des »Armenozids« ist umstritten. Wie kamen Sie auf 1,5 Millionen?

Nun, das ist die Zahl, die von den meisten seriösen Historikern angeführt wird. Sie wird durch die Vatikan-Dokumente bestätigt. Der Apostolische Delegat in Konstantinopel, Msgr. Angelo Dolci, ging bereits am 20.12.1915 von 1,1 Millionen Toten aus, noch bevor es zum Massensterben und den Massakern an den Deportierten in der syrischen Wüste gekommen war, während der Kapuzinerpater Michael Liebl am 30. September 1917, also nach den Massakern, konstatierte: „Von den 2,3 Millionen in der Türkei wohnenden Armeniern sind ein und eine halbe Million von den Türken ausgerottet worden.“ Insgesamt fielen sogar 2,5 Millionen Christen, darunter auch rund 300.000 Aramäer, der Verfolgung der Jahre 1915-1922 zum Opfer, die nach dem Sturz der Jungtürken von Kemal Atatürk munter fortgeführt wurde.
 
  1. Sie hatten Zugang zu bislang unveröffentlichten Dokumenten aus dem Geheimarchiv des Vatikans. Wie ist Ihnen das gelungen?´

Zu dem Zeitpunkt, zu dem ich meine Forschungen begann, hatten Historiker lediglich die Dokumente des Heiligen Stuhls zu den Armeniermassakern von 1895-96 aufgearbeitet, zudem gab es einen kleinen Aufsatz über die Versuche von Papst Benedikt XV., den Völkermord von 1915/6 zu stoppen. Das war’s dann auch schon. Bei meinen Recherchen fiel mir auf, dass das gesamte Archiv der Apostolischen Nuntiatur in Konstantinopel für Historiker noch nicht zugänglich war. Der Grund lag darin, dass es auch in die bislang noch „geschlossene Periode“, die Zeit des Zweiten Weltkriegs, hineinreicht, die noch nicht vollständig katalogisiert worden ist. Also bat ich den Präfekten des Geheimarchivs, Bischof Pagano, ob ich nicht zumindest Einsicht in die Akten aus dem Pontifikat Benedikts XV. (1914-1922) bekommen könnte. Diese wurde mir gewährt. Ich hätte gerne auch noch die Akten der Apostolischen Delegation in Mossul, also praktisch im Epizentrum des Völkermordes, eingesehen, musste aber erfahren, dass diese bislang noch nicht geordnet und katalogisiert worden sind. Es gibt also noch einiges zu forschen!
 
  1. Die moderne Türkei unter Erdogan bestreitet den Völkermord bis heute und versucht, ihn zu vertuschen. Wie wird das gemacht?

Etwa indem sich Ankara in den Inhalt deutscher Geschichtsbücher und Lehrpläne einmischt! So geschehen 2005 in Brandenburg, was sogar zu einer Bundestagsdebatte führte. Doch als über 156.000 Deutsche im Rahmen des „Bürgerdialogs“ Frau Merkel Anfang 2012 aufforderten, die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern, ähnlich wie das Leugnen der Schoah, unter Strafe zu stellen, winkte die Kanzlerin nur ab: Die „Aufarbeitung der Ereignisse“ sei eine bilaterale Angelegenheit zwischen Armenien und der Türkei und ginge Deutschlands nichts an. Eine solche Haltung ist schon skandalös angesichts der Tatsache, dass dies alles quasi mit deutschem „nihil obstat“ geschah – von uns einfach gebilligt wurde! Da drückt sich die Kanzlerin vor der historischen Verantwortung unseres Landes. Dabei liegen einige der eindrucksvollsten Zeugnisse für die Verbrechen der Türkei im Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin!
 
  1. Sie sehen eine deutsche Mitschuld am »Armenozid.« Wie sieht die aus?

Ganz direkt durch bewusstes Wegschauen. „Wir müssen die Türkei bis Kriegsende an unserer Seite halten, auch wenn die Armenier darüber zugrunde gehen“, lautete die Parole, die Reichskanzler Bethmann-Hollweg ausgegeben hatte. So gingen die bewegendsten, erschütterndsten Zeugenberichte der deutschen Konsuln in Erzurum und Aleppo im Auswärtigen Amt ein – und wurden einfach ignoriert. Man wollte gar nicht wissen, was da im Osten des Osmanischen Reiches, in unmittelbarer Nähe der Front, geschah, denn es stand dem Kriegsziel im Wege. Deutschen Soldaten, die Seite an Seite mit den Türken in Syrien und Mesopotamien kämpften, wurde verboten, sich einzumischen, so schrecklich die Gräueltaten auch waren, deren Zeugen sie wurden.

Aber es gab nicht nur deutsche Soldaten und Diplomaten im Land, sondern auch deutsche Offiziere, die direkt im Dienste der Türken standen, Männer wie Colmar von der Goltz oder Bronsart von Schellendorf. Und einiges deutet darauf hin, dass sie es waren, die den Türken zu einer Umsiedelung der Armenier aus den Frontgebieten nach Mesopotamien, wo gerade die Bagdad-Bahn gebaut wurde, geraten hatten. Sie hatten dabei gewiss keinen Völkermord im Sinn, es waren wohl die fanatischen Funktionäre der türkischen Ittihat-Partei, die dieses Potenzial  und die Gelegenheit erkannten, ihr eigentliches Ziel auf diese Weise zu erreichen. Männer, die von Anfang an den osmanischen Vielvölkerstaat für schwach hielten und von einem homogenen türkischen Nationalstaat träumten, den sie von seinen „Fremdelementen“ „reinigen“ wollten. Aber wenn tatsächlich die Blaupause dazu von deutschen Offizieren geliefert wurde, und vieles spricht dafür, trägt Deutschland eine Mitschuld und wäre dringend verpflichtet, alles Menschenmögliche zur Aufklärung der Ereignisse von 1915/16 zu unternehmen, statt auch heute noch vor Ankara zu kuschen.
 
  1. Sie ziehen in ihrem Buch eine Querverbindung zur Schoah, dem Holocaust. Hat man Ihnen den Vorwurf gemacht, dass Sie den Holocaust relativieren? Wenn ja, wie lautet Ihre Antwort darauf?

Das hat man mir zum Glück noch nicht vorgeworfen, denn es wäre ja auch Unfug. Ich relativiere nicht die Schoah, wenn ich nachweise, dass sie ein historisches Vorbild hatte. Die Schoah bleibt die Schoah, das schrecklichste Verbrechen in der Geschichte der Menschheit, weil in den deutschen Tötungsfabriken das Morden industrialisiert und damit entmenschlicht wurde. Der Völkermord an den Armeniern war barbarisch, ja archaisch, der Holocaust dagegen von eiskalter, perfektionierter, unmenschlicher Effizienz. Doch ich sage auch: Wer das Dritte Reich und seine Gräueltaten aus ihrem historischen Kontext reißt, macht jede Prävention unmöglich. Wenn wir verhindern wollen, dass sich Hitler wiederholt, müssen wir verstehen, aus welchem Sumpf er seine Ideologie schöpfte, welche Entwicklungen seinen Aufstieg möglich machten und wer oder was seine Vorbilder waren. Denn natürlich ist der Nationalsozialismus das Produkt einer Reihe von Strömungen, die in der NSDAP zusammenflossen. Hitler ist mit seinen Wahnideen weder vom Himmel gefallen noch aus der Hölle gekrochen und auch 1945 nicht dorthin verschwunden. Die Situation in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg hat seinen Aufstieg erst möglich gemacht, Protagonisten und Statisten dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ haben ihm zum Aufstieg verholfen und bildeten seine Infrastruktur. Er selbst berief sich ja mehrfach auf den Armenozid. Der Gründer der DAP hatte vor dem Krieg in jungtürkischen Kreisen gewirkt, zu Hitlers frühesten Kampfgefährten zählten Augenzeugen des Armenozids. „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier“ soll er gesagt haben, als er seine Generäle auf den Einmarsch in Polen einschwor.
Die Singularität der Schoah zu postulieren hieße, ihre Wiederholbarkeit zu bestreiten, denn, wie es Hagen Schulze klug formulierte: „Das Singuläre lehrt nichts für die Zukunft, denn es ist seiner Natur nach nicht wiederholbar.“ Gerade wegen der Gefahr der Wiederholbarkeit ist es so sträflich, das türkische Urverbrechen zu leugnen.

 
           7. Gab es historisch eine Chance, diesen Völkermord zu stoppen?


Ich denke, die gab es. Deutschland war der mächtigste Verbündete des osmanischen Reiches, da hätte echter Druck schon etwas erreichen können. Es wurde ja offiziell von der deutschen Botschaft protestiert, aber diese Proteste waren so windelweich, dass die Türken sie nicht ernst zu nehmen brauchten. Der einzige deutsche Botschafter, Graf von Metternich, der sich wirklich für die Armenier stark gemacht hatte, wurde auf Druck der Türken nach ein paar Monaten wieder abberufen. Sein Engagement war also unerwünscht. Dabei hätte man durchaus Erfolg haben können, wie sich zeigte, als der Heilige Stuhl zugunsten der jüdischen Siedler in Palästina intervenierte, die ebenfalls von den Türken deportiert und ermordet werden sollten. Sofort wurde der türkische Befehlshaber Cemal Pascha abgelöst durch einen deutschen General, von Falkenhayn. Der war im Grunde ein anständiger Kerl, der die Juden gut behandelte und Jerusalem schließlich kampflos an die Briten übergab, um ein Blutvergießen an den Heiligen Stätten dreier Weltreligionen zu verhindern. Da hat die Reichsregierung also, Gott sei Dank, gehandelt, wohl auch im eigenen Interesse. Es lebten damals um die 600.000 Juden im Deutschen Reich, sie dienten natürlich auch im Deutschen Heer,  sie hätten schockiert auf Massaker an ihren Glaubensbrüdern im Heiligen Land reagiert. Die Armenier dagegen hatten keine Lobby. Es lebten ja nur ein paar hundert in Deutschland. Die spielten politisch keine Rolle, auf sie brauchte man keine Rücksicht zu nehmen, für sie interessierte sich kaum jemand. Das mag jetzt zynisch klingen, aber genau das war die deutsche Politik in der Armenierfrage immer schon: zynisch!  Und so blieben beherzte Appelle wie der des Kölner Erzbischofs leider unerhört.

Danke, Herr Hesemann.