Michael Hesemann, Historiker und Autor
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Fund im Geheimarchiv des Vatikans: Michael Hesemann mit der Kopie des Kardinal v.Hartmann-Briefes an den Reichskanzler, Buchcover
 

DER VATIKAN UND DER VÖLKERMORD AN DEN ARMENIERN

Interview mit Michael Hesemann, der 2000 Seiten unveröffentlichter Dokumente zum Armenozid im Vatikanischen Geheimarchiv entdeckte – und sie jetzt in einem spektakulären neuen Buch veröffentlicht.

Von Yuliya Tkachova
 
Herr Hesemann, Sie sind Fachautor für kirchengeschichtliche Themen. Wie kamen Sie dazu, ausgerechnet über den Völkermord an den Armeniern zu schreiben?

Durch einen Zufall. Ich arbeite seit 2008, also seit Erscheinen meiner Biografie Pius XII., an einem zweiten Buch, das noch dezidierter sein mutiges Eintreten für die verfolgten Juden behandeln wird. Damals, 2008, erhielt ich auch erstmals die Erlaubnis, im Vatikanischen Geheimarchiv zu forschen. Da begann ich, alle bereits freigegebenen Bestände durchzuarbeiten, angefangen mit der Zeit, als Eugenio Pacelli Apostolischer Nuntius in München und Berlin war, also 1917-1929. Dabei stieß ich auf ein Dokument, das mich tief bewegte. Es war der glühende Appell des damaligen Erzbischofs von Köln, Kardinal von Hartmann, an den damaligen Reichskanzler, weitere Ausschreitungen gegen die Armenier beim türkischen Verbündeten zu verhindern. Darin schrieb Kardinal von Hartmann, die „Verfolgung der Armenier im Jahre 1915“ würde „an Grausamkeit den Christenverfolgungen der ersten christlichen Jahrhunderte“ nicht nachstehen. Es seien „Gräuel vor Gott“,  ja „himmelschreiende Gräuel“, die zu verhindern die Reichsregierung moralisch verpflichtet sei, wolle sie nicht „vor Gott und der Geschichte“ für diese verantwortlich gemacht werden. Nun war Kardinal von Hartmann keineswegs ein Kriegsgegner oder friedensbewegter Moralist. Er war konservativ und kaisertreu, ein glühender Nationalist, der sogar vor dem Papst in Rom den deutschen Einmarsch im neutralen Belgien verteidigt hatte.  Dass ausgerechnet er so leidenschaftlich für die Armenier Partei ergriff, zeigte mir, wie erschüttert er von den Nachrichten aus dem Orient gewesen sein muss. Schon aus „Sorge um die Ehre des deutschen Namens“, so von Hartmann wörtlich, müsse man den türkischen Verbündeten zur Raison bringen. Später erfuhr ich dann, wieder eher zufällig, bei Recherchen in Nazareth, dass Kardinal von Hartmanns Nichte eine der Missionsschwestern in Mossul war und er daher offenbar aus erster Hand von den Gräueln des Völkermordes erfahren haben musste. Natürlich war davon auszugehen, dass noch weitere Priester, und Missionare und natürlich die Vertreter der mit Rom unierten Armenisch-Katholischen Kirche ihre Bischöfe und diese wiederum den Heiligen Stuhl über die größte Christenverfolgung des frühen 20. Jahrhunderts informierten. Diese Berichte, davon konnte ich ausgehen, mussten sich im Vatikanarchiv befinden. Also machte ich mich auf die Suche danach.
 
Und wurden fündig. Aber was genau fanden Sie?

Zunächst einmal etwa 600 Seiten in den Akten des päpstlichen Staatssekretariats vom Ersten Weltkrieg. Doch ich vermisste die Akten der Apostolischen Delegation in Konstantinopel. Schließlich teilte man mir mit, dass diese noch unter Verschluss standen, weil sie einen ziemlich langen Zeitraum umfassten, bis weit ins Pontifikat Pius XII., das noch nicht für Historiker freigegeben ist. Also schrieb ich an den Präfekten des Vatikanischen Geheimarchivs, Msgr. Sergio Pagano, und bat ihn um Einsicht der Akten aus dem Pontifikat Benedikts XV., des Weltkriegspapstes, denn nur  die interessierten mich für dieses Projekt. Die wurde mir schließlich gewährt, unter der Bedingung, dass ein Archivmitarbeiter mich dabei begleitete, was für mich nur hilfreich war. Und so wurde mir ein weiterer Quellenschatz von 1200 Seiten eröffnet. Zusammen mit den Dokumenten zur Armenierfrage in den Archiven der Nuntiaturen in München und Wien hatte ich dann in rund 2000 Seiten Einblick.
 
Welche neuen Erkenntnisse gewannen Sie aus diesen Akten? Muss die Geschichte des Völkermordes jetzt umgeschrieben werden?

Dass die Geschichtsbücher völlig umgeschrieben werden sollten, verlangen in der Regel eher Amateure, nicht seriöse Historiker. Seriöse historische Forschung muss wenig umschreiben, aber vieles ergänzen. Sie fügt dem bereits bekannten Bild immer neue Aspekte und Perspektiven hinzu. Nun habe ich, um das bereits bekannte Bild zu kennen und ergänzen zu können, die wichtigste Fachliteratur zum Armenier-Genozid, auch Armenozid genannt, durchgearbeitet und zu meinem Schrecken festgestellt, wie wenig Beachtung bislang in der Forschung die Bemühungen des Heiligen Stuhls gefunden haben, die Gräuel zu beenden. Natürlich konnte dies nur auf diplomatischem Wege geschehen, denn das Osmanische Reich war bekanntlich keine christliche Nation; Christen hatten nichts zu sagen, Christen waren die Opfer dieser Verfolgung und es herrschte Krieg. Also waren auch die Möglichkeiten, Druck auf das jungtürkische Regime auszuüben, begrenzt. Trotzdem muss man sagen, dass Papst Benedikt alles nur Menschenmögliche versucht hat, die Machthaber umzustimmen – von zwei Briefen an den Sultan und diversen Eingaben des Apostolischen Delegaten bis hin zu Interventionen bei den Verbündeten, von denen leider der eine, das preußisch-protestantische Deutsche Reich, völlig desinteressiert und der andere, das katholische Österreich-Ungarn, machtlos war. Außer falschen Versprechungen der Türken, etwa die katholischen Armenier zu verschonen oder gar die Deportierten wieder in ihre Heimat zurückkehren zu lassen, wurde nichts erreicht. 1,5 Millionen armenische Christen starben unter schrecklichsten Umständen vor den Augen ihrer Priester und Bischöfe (die oft genug ebenfalls ermordet wurden) und den völlig hilflosen ausländischen Seelsorgern und Missionaren.
Doch um Ihre zweite Frage zu beantworten: Nein, ich habe die Geschichte des armenischen Völkermordes nicht umgeschrieben. Aber ich habe sie gewiss um eine nicht unbedeutende neue Perspektive ergänzt und der Forschung einen neuen Quellenschatz eröffnet.
 
Hatte es je eine reelle Chance gegeben, das Morden zu stoppen?

Ja, auf jeden Fall. Wenn das Deutsche Reich, der wichtigste Verbündete der Osmanen, Druck auf das Jungtürken-Regime ausgeübt hätte. Aber daran hatte Berlin kein Interesse. Man wollte es sich mit den Türken nicht verscherzen. Dabei hätte man durchaus Erfolg haben können, wie sich zeigte, als der Heilige Stuhl zugunsten der jüdischen Siedler in Palästina intervenierte, die ebenfalls von den Türken deportiert und ermordet werden sollten. Sofort wurde der türkische Befehlshaber Cemal Pascha abgelöst durch einen deutschen General, von Falkenhayn. Der war im Grunde ein anständiger Kerl, der die Juden gut behandelte und Jerusalem schließlich kampflos an die Briten übergab, um ein Blutvergießen an den Heiligen Stätten dreier Weltreligionen zu verhindern.
 
Also intervenierte Berlin zugunsten der Juden, aber nicht der Armenier?

Ja! Der Grund ist offensichtlich. Es lebten um die 600.000 Juden im Deutschen Reich, sie dienten natürlich auch im Deutschen Heer,  die schockiert auf Massaker an ihren Glaubensbrüdern im Heiligen Land reagiert hätten. Als gebildete Minderheit hatten sie Zugang zu den Medien und zur Politik. Armenier dagegen gab es nur ein paar hundert. Die spielten politisch keine Rolle, auf die brauchte man keine Rücksicht zu nehmen, für die interessierte sich kaum jemand.
 
Das klingt ziemlich zynisch…

Tut es auch. Aber wie schrieb Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg in einem amtlichen Dokument: „Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grund gehen oder nicht.“ Darum hatte Kardinal von Hartmann völlig recht. Gleich, ob nun deutsche Militärs im Dienst der Osmanen am Völkermord direkt oder nur indirekt beteiligt waren, worüber die Forschung noch streitet. Aber als Mitwisser und Mitverschweiger des Völkermordes an den Armenier haben wir Deutsche uns mitschuldig gemacht. Umso größer ist unsere Verantwortung, jetzt endlich für Aufklärung zu sorgen und dem leidgeprüften armenischen Märtyrervolk zu Gerechtigkeit zu verhelfen:  Der Völkermord an den Armeniern ist eine schreckliche und traurige historische Tatsache, daran kann kein Zweifel mehr bestehen. Auch wenn die moderne Türkei, allen voran Erdogan, eben dies noch immer bestreitet und zu vertuschen versucht.
 
Auf welche Weise?

Etwa indem sich Ankara in den Inhalt deutscher Geschichtsbücher und Lehrpläne einmischt! So geschehen 2005 in Brandenburg, was sogar zu einer Bundestagsdebatte führte. Doch als über 156.000 Deutsche im Rahmen des „Bürgerdialogs“ Frau Merkel Anfang 2012 aufforderten, die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern, ähnlich wie das Leugnen der Schoah, unter Strafe zu stellen, winkte die Kanzlerin nur ab: Die „Aufarbeitung der Ereignisse“ sei eine bilaterale Angelegenheit zwischen Armenien und der Türkei und ginge Deutschlands nichts an. Eine solche Haltung ist schon skandalös angesichts der Tatsache, dass dies alles quasi mit deutschem „nihil obstat“ geschah – von uns einfach gebilligt wurde! Da drückt sich die Kanzlerin vor der historischen Verantwortung unseres Landes. Dabei liegen einige der eindrucksvollsten Zeugnisse für die Verbrechen der Türkei im Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin!
 
Die Türkei behauptet, es habe sich um kriegsbedingte Umsiedlungsmaßnahmen gehandelt. Zudem habe es eine armenische Kollaboration mit dem Feind, den Russen, und diverse Aufstände gegeben. Und schließlich seien auch nicht 1,5 Millionen Armenier, wie Sie behaupten, sondern nur 300.000 durch Krankheiten und Missstände bei der Versorgung ums Leben gekommen.
 
Ja, diese drei türkischen Lügen widerlege ich in meinem Buch. Denn das ist, was die Vatikandokumente zum Armenozid, oder, in offizieller vatikanischer Sprachregelung, der „Verfolgung der Armenier“, zweifelsfrei belegen:  
  1. Es gab nie einen armenischen Aufstand. „Die Behauptung, die Armenier hätten sich Waffen besorgt und planten einen Aufstand, ist eine reine Verleumdung“ heißt es ganz deutlich in einem Bericht, den das armenisch-katholische Patriarchat im Herbst 1915 an den Vatikan schickte. Das wird auch von den deutschen Konsuln und Missionaren vor Ort bestätigt. Es gab armenische Politiker, die vor Mordanschlägen der Jungtürken nach Russisch-Armenien geflohen waren und Armenier, die sich dort vor den Massakern in Sicherheit brachten und schließlich auf russischer Seite kämpften. Andere desertierten aus der Armee oder versuchten, sich der Einberufung zu entziehen und wieder andere leisteten Widerstand, als die Massaker angeordnet wurden – aber es gab weder einen geplanten Aufstand noch eine Verschwörung mit dem Zarenreich!
  2. Wären nur die Armenier aus den Frontgebieten evakuiert worden, hätte man ja noch an „kriegsbedingte Umsiedlungsmaßnahmen“ glauben können. Doch die Armenier aus den Provinzen Aleppo oder Diyarbekir im äußersten Südosten der Türkei wurden ebenso deportiert wie die Armenier von Angora, dem späteren Ankara im Herzen des Landes. Bevor sich die Deportationsmärsche in Bewegung setzten, wurden meist sämtliche armenischen Männer zwischen 17 und 70, die noch nicht einberufen worden waren, ermordet; nur Frauen, Kinder und Greise wurden auf die wochenlangen Todesmärsche geschickt. Die zogen so lange kreuz und quer durch das Land, bis ein großer Teil der Unglücklichen an Erschöpfung, Krankheit oder Misshandlung durch die türkischen Gendarmen zugrunde gegangen war. Für die wenigen, die diese Strapazen überlebten, gab es keine Zukunft: Nur Konzentrationslager in der syrischen Wüste, in denen sie unter freiem Himmel bei Hitze und Kälte, mit völlig unzureichenden Lebensmittelrationen und fehlender medizinischer Versorgung nur noch krepieren konnten – oder Wochen später noch tiefer in die Wüste getrieben wurden, wo man sie oft genug massakrierte, wenn sie nicht schnell genug starben. „Es ist unmöglich, sich eine Vorstellung davon zu machen, was im Landesinnern geschieht“, schrieb der Apostolische Delegat, Msgr. Dolci, am 20. August 1915 an den Vatikan, „Die gesamte armenische Bevölkerung wird systematisch und auf brutalste Weise aus ihren Städten und Dörfern vertrieben und an unbekannte Orte verschleppt … viele Karawanen wurden, sobald sie in verlassene Gegenden kamen, von ihren Führern massakriert.“  Das hat mit Umsiedlung nichts mehr zu tun, das war ein geplanter Völkermord. Mit den Worten des armenisch-katholischen Patriarchen: Ein „Projekt zur Vernichtung des armenischen Volkes in der Türkei.“
  3. Tatsächlich scheint es gar nicht einmal um die orthodoxen Armenier gegangen zu sein, denen man offiziell die Kollaboration mit dem Feind vorwarf, sondern um die „Reinigung“ des Landes von seinen nichtislamischen Elementen gemäß der islamofaschistischen, „pantürkischen“ Ideologie der Jungtürken und ihrer Chefideologen. So stellte der Kapuziner-Superior Norbert Hofer in einem Bericht an den Vatikan deutlich fest, dass hinter den Deportationen die Absicht stand, „alle christlichen Elemente im Land ungestraft vernichten zu können.“ Tatsächlich wurden ja neben den orthodoxen Armeniern auch die Katholiken und Protestanten, ja sogar die völlig unbeteiligten aramäischen (syrischen) Christen und orthodoxe Griechen  ebenfalls verfolgt, deportiert und ermordet.  Von den katholischen Armeniern, die nun wirklich mit Rußland nichts am Hut hatten und mehrheitlich die zentralanatolischen Provinzen bewohnten, sind sogar prozentual mehr ermordet wurden, nämlich unglaubliche 86,7 %, als von den orthodoxen Armeniern, wo es „nur“ 71,6 % waren – und das trotz wiederholter Versprechen an den Vatikan, die Katholiken zu verschonen.  So erklärte auch der armenisch-katholische Patriarch in einem Bericht an den Vatikan: „Es ist sicher, dass die osmanische Regierung beschlossen hat, das Christentum aus der Türkei zu beseitigen, bevor der Weltkrieg zu Ende geht.“ Und nicht nur das Christentum: nur knapp entgingen die jüdischen Palästina-Siedler einem ähnlichen Schicksal!
  4. Zur Zahl der Opfer ist zu sagen, dass schon in einem Vatikandokument aus dem Herbst 1915 von „beinahe 1 Million Opfer“ die Rede ist – bevor das Massensterben und Morden an den Deportierten in der syrischen Wüste überhaupt begonnen hatte. In meinem Buch weise ich nach, weshalb die Zahl von 1,5 Millionen ermordeten Armeniern realistisch ist – insgesamt fielen sogar 2,5 Millionen Christen der Verfolgung der Jahre 1915-1922 zum Opfer, die nach dem Sturz der Jungtürken von Kemal Atatürk munter fortgeführt wurde.
So muss man sagen, dass auch die Vatikandokumente die offizielle türkische Version der Geschichte eindrucksvoll widerlegen und Beweise liefern, dass es ein geplanter Völkermord war. Stellen Sie sich doch mal bitte vor: Vor dem 1. Weltkrieg war jeder fünfte Bewohner des Osmanischen Reiches Christ. Heute sind es nur noch 0,2 %. Die größte Christenverfolgung der Geschichte hat also zu dem von den Ideologen gewünschten Ergebnis geführt.
 
Gewiss der umstrittenste Aspekt Ihres Buches ist die Querverbindung, die Sie zur Schoah, zum Holocaust der Nazis ziehen. Relativieren Sie nicht den Holocaust, indem Sie ihn seiner Singularität berauben?

Im Gegenteil: Wer das Dritte Reich und seine Gräueltaten aus ihrem historischen Kontext reißt, macht jede Prävention unmöglich. Wenn wir verhindern wollen, dass sich Hitler wiederholt, müssen wir verstehen, aus welchem Sumpf er seine Ideologie schöpfte, welche Entwicklungen seinen Aufstieg möglich machten und wer oder was seine Vorbilder waren. Denn natürlich ist der Nationalsozialismus das Produkt einer Reihe von Strömungen, die in der NSDAP zusammenflossen. Hitler ist mit seinen Wahnideen weder vom Himmel gefallen noch aus der Hölle gekrochen und auch 1945 nicht dorthin verschwunden. Die Situation in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg hat seinen Aufstieg erst möglich gemacht, Protagonisten und Statisten dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ haben ihm zum Aufstieg verholfen und bildeten seine Infrastruktur. Er selbst berief sich ja mehrfach auf den Armenozid. Der Gründer der DAP hatte vor dem Krieg in jungtürkischen Kreisen gewirkt, zu Hitlers frühesten Kampfgefährten zählten Augenzeugen des Armenozids. „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier“ soll er gesagt haben, als er seine Generäle auf den Einmarsch in Polen einschwor. Mit seinen Deportationen, den Todesmärschen und Konzentrationslagern ist der Armenozid natürlich das historische Vorbild für den Holocaust, und doch war dieser ganz anders: industrialisierter, entmenschlichter. Der Armenozid war archaisch und barbarisch, die Schoah dagegen perfektionierte, ja industrialisierte den Völkermord und tötete viermal mehr Menschen in regelrechten Tötungsfabriken. Doch die Singularität der Schoah zu postulieren hieße, ihre Wiederholbarkeit zu bestreiten, denn, wie es Hagen Schulze klug formulierte: „Das Singuläre lehrt nichts für die Zukunft, denn es ist seiner Natur nach nicht wiederholbar.“ Gerade wegen der Gefahr der Wiederholbarkeit ist es so sträflich, das türkische Urverbrechen zu leugnen.
 
Im kommenden April jährt sich der Völkermord an den Armeniern zum hundertsten Mal. Überall auf der Welt sind Gedenkfeiern geplant. Zuvor erscheint Ihr Buch. Was erwarten Sie von diesem Ereignis?

Ich hoffe, dass auch die von mir veröffentlichten Dokumente dazu beitragen, die Diskussion um den Armenozid neu zu entfachen. Wenn der Erste Weltkrieg die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts war, dann war der Völkermord im Osmanischen Reich das Urverbrechen. Er kann nicht mehr bestritten werden, jetzt, wo noch ein weiterer Quellenschatz die Historizität der berichteten Ereignisse bestätigt und die Armenier von allen Verschwörungsvorwürfen exkulpiert. Doch die Vatikandokumente, vor allem der mutige Appell von Kardinal von Hartmann, ziehen auch Deutschland in die Verantwortung. Gerade weil wir Bundesgenossen der Türken, Mitwisser und Wegschauer waren, ist es an uns, dafür zu werben, dass dieses dunkelste Kapitel der türkischen Geschichte endlich aufgearbeitet wird. Gerade weil in Deutschland drei Millionen Türken leben, sollte es uns eine Pflicht sein, dieses Thema in den Schulen zu behandeln, in der Hoffnung, dass die Fakten auf diesem Weg auch in die Türkei getragen werden. Dabei dürfen wir uns von Erdogan & Co. nicht einschüchtern lassen. Es darf vor den Gerichten keine Völkermorde erster und zweiter Klasse geben, nicht solche, die man nicht leugnen darf und solche, die munter und wider aller Fakten bestritten werden können. Jede Leugnung des Genozids an den Armeniern sollte inakzeptabel sein. Denn sie verhöhnt die Opfer, deren schiere Existenz sie bestreitet oder verleumdet sie, wenn sie diese zu Schuldigen erklärt. Vor allem aber schützt sie ihre Mörder. Das verheißt auch den Völkermördern von heute einen Freispruch vor der Geschichte, wenn bloß ihre Begründung plausibel genug erscheint. Dabei sollten wir alles daran setzen, dass sich die Schrecken einer Christenverfolgung oder „ethnischen Säuberung“ nicht wiederholen. Gerade in unserer Zeit, in der die Christen im Nahen Osten erneut unter Terror und Vertreibung leiden, während die Welt es wieder einmal vorzieht wegzuschauen.
 
Besonders mutig hat sich Papst Franziskus gezeigt, der den Völkermord an den Armeniern mehrfach anprangerte. Sie haben seine Biografie geschrieben. War es auch ihr Wunsch, ihn zu verteidigen?

Ich bin dem Heiligen Vater immens dankbar dafür, dass er dieses Thema bei mehreren Gelegenheiten offen zur Sprache gebracht hat. Auch wenn meine Suche nach den Akten über den Völkermord noch im Pontifikat Benedikts XVI. begann, kann ich nicht bestreiten, dass sie gerade nach der heftigen Gegenreaktion der Türkei auf die Äußerung von Papst Franziskus in vatikanischen Kreisen auf Wohlwollen stieß. Insofern haben seine Worte mir gewiss die Aktualität und Wichtigkeit dieses Themas verdeutlicht und mich inspiriert, mit Nachdruck an meinem Buch zu arbeiten.

Danke für dieses Interview!
 
INFORMATIONEN ZUM BUCH:
mhesemann@aol.com
Michael Hesemann - Worringerstr. 1 – D-40211 Düsseldorf
DAS BUCH ERSCHEINT AM 23. FEBRUAR 2015 IM HERBIG VERLAG MÜNCHEN!


Einige der Dokumente zum Völkermord, die Hesemann im Vatikanarchiv entdeckte

ZITATE aus einigen Dokumenten (zur freien Auswahl im Fall einer Veröffentlichung)

Am 20. August 1915 telegraphierte der Apostolische Delegat in Konstantinopel, Msgr. Angelo Maria Dolci, an Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri:
  „Schreckliche Gräueltaten wurden von dieser Regierung an unschuldigen Armeniern im Inneren des (Osmanischen) Reiches begangen. In einigen Regionen wurden sie massakriert, in anderen an unbekannte Orte deportiert, um auf dem Weg dorthin an Hunger zu sterben. Mütter haben ihre Kinder verkauft, um sie vor dem sicheren Tod zu bewahren. Arbeite unermüdlich daran, diese Barbarei zu stoppen“
(A.C.O., Armeni, fasc. 2050/28, 20.8.1915, Dolci an Gasparri)
 
Msgr. Angelo M. Dolci am 20.8.1915 in einem Bericht an Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri:
„Es ist unmöglich, sich eine Vorstellung davon zu machen, was im Landesinnern geschieht. Die gesamte armenische Bevölkerung wird systematisch auf brutalste Weise aus ihren Städten und Dörfern vertrieben und an unbekannte Orte verschleppt. Manchmal erlauben sie diesen Unglücklichen, Alte, Kranke, Kinder und ihre dringendsten Gegenstände mit Karren zu transportieren. Meistens aber müssen alle diese armen Menschen in größeren Gruppen den Weg zu Fuß zurücklegen durch die trockene Landschaft, wo viele von ihnen durch völlige Erschöpfung, Leiden und Entbehrungen aller Art nach ein paar Tagen den Tod finden. Anderen werden unter dem Vorwand, sie zu schützen, bewaffnete Eskorten mitgegeben, doch leider wird diese Begleitung oft zu der größten Gefahr für die Deportierten. Tatsächlich wurden nämlich viele Karawanen, sobald sie in verlassenere Gegenden kamen, von ihren Führern (den Gendarmen) massakriert.“
(A.C.O., Armeni, fasc. 2950/28, Dolci an Gasparri)
 
Telegramm mit dem dramatischen Hilfsgesuch des armenisch-katholischen Priesters Giovanni Natbandian an Msgr. Dolci vom (20.?) August 1915:
„In Yozgat begannen 2500 deportierte Waisen und Witwen an Hunger und Krankheit zu sterben. Die einheimischen Türken schänden die jungen Mädchen. Die Reisen sind gefährlich. Kirchliches Gerät wurde nicht zurückgegeben. Ich bitte um Fürsprache und Hilfe wegen materieller Not. Die Armen warten auf eine Antwort. Ich schickte 10 Jungen ins Waisenhaus.“
(A.S.V., Arch. Deleg. Turchia 101, Fasc. 527, S.116)
 
Msgr. Dolci am 20.12.1915, nach dem Gespräch mit einem Augenzeugen, an den Vatikan
„Der Bischof (von Harput) mit den Priestern und drei Ordensschwestern wurden trotz der Versicherung des vali, sie würden über Urfa nach Aleppo gebracht, in Vartatil massakriert, einem Dorf, vier Stunden von der Stadtmitte entfernt. Es heißt, eine vierte Ordensschwester sei auf dem Transport nach Diyarbekir entführt worden. Nur ein paar von den Frauen (aus Harput) erreichten Aleppo, die anderen wurden alle massakriert. Was die Umstände und Details des Todes des Bischofs und seiner Begleiter auf der Reise betrifft, gibt es das Zeugnis eines Moslems. Als ihm klar wurde, welche Absicht die von der Regierung zu seiner Bewachung abkommandierten Soldaten und die von Mezire ausgesandten Mörder verfolgten, umarmte der Bischof die Seinen, sprach ihnen Mut zu und überantwortete sie dem Willen Gottes; er segnete sie, erteilte ihnen die Absolution und erhielt (von einem der Priester) die Lossprechung; dann bat er die Mörder, sie nicht zu foltern – und wurde erschossen.“
(A.C.O., Armeni del Patriarcato 1891-1926, rubr. 105, Nr. 37021)
 
 Ignace Ephrem II. Rahmani, der syrisch-katholische Patriarch, in seinem Bericht an den Heiligen Stuhl:
„Es wird geschrieben und berichtet, dass die Türken die Armenier massakriert haben. Die Wahrheit ist, dass die Türken neben den Armeniern auch andere Christen ermordeten: Syrische Katholiken, syrische Monophysiten, Chaldäer, Nestorianer etc. (…)
Der Bischof der armenischen Katholiken, Msgr. Celebian, wurde an einen Ort namens GOZLI gebracht und dort ermordet. Auch die anderen Priester aller Konfessionen wurden umgebracht; einige mit den Deportierten, andere in ihren Kirchen oder in ihrem Pfarrhaus... auch alle Christen, die in den zahlreichen Dörfern dieser Region lebten, wurden gleichermaßen umgebracht, darunter auch eine große Anzahl nicht katholischer Armenier und monophysitischer Syrer.“
(A.S.V., Seg. Stato, Guerra (1914-18), rubr. 244, Fasc. 112, S. 84)
 
Pater Norbert Hofer OFMCap, ehem. Superior der Kapuziner von Erzurum, schrieb im Herbst 1915 einen Bericht an den Vatikan. Darin zitiert er einen Priester aus seiner österreich. Heimat, D. Dunkl:„
Normalerweise kommen nur die Frauen bis Aleppo; denn die Männer sterben schon vorher entweder an ihren Leiden oder werden massakriert.
Im Hof eines ‚Khans‘ (Karawanserei) in der Nähe von Aleppo sah er auf der nackten Erde sitzend, inmitten ihrer eigenen Ausscheidungen, mehrere hunderte Frauen, darunter viele Mütter mit ihren bereits toten oder noch lebenden Kinder an der Brust. Sie alle waren in einem apathischen Zustand oder kurz davor zu sterben. Eine protestantische Diakonisse – die übrigens versuchte, mit allen Mitteln die Leiden der unglücklichen Frauen zu lindern – erzählte, dass sie täglich etwa zwanzig Leichen von dem oben genannten Hof wegschaffen musste.
Eine katholische Nonne, die kurz zuvor in Aleppo eingetroffen war, erzählte, dass sie mit sechs weiteren Schwestern aus Tokat ausgewiesen wurde. Sie alle wurden entkleidet und mussten so, ganz nackt, die Reise von mehr als einer Woche bis Aleppo unternehmen. Fünf der Begleiterinnen sind auf dem Weg verstorben, waren ihrer Erschöpfung und der Torturen, die sie ertragen mussten, zum Opfer gefallen. Eine wurde in der Nähe der Stadt (Aleppo) verrückt und ertränkte sich in einem Fluss. Der Erzählerin gelang es, sich der Kleidung einer auf der Straße liegenden Leiche zu bemächtigen, sich anzukleiden und in die Stadt zu fliehen, wo sie von anderen Nonnen, die vorher angekommen waren, aufgenommen wurde.“
(A.S.V., Segr. Stato. Guerra (1914-18), rubr. 244, fasc. 110, S. 260-62)
 
Am 10.9.1915 schrieb Papst Benedikt XV. an Sultan Mehmet V.:
„Majestät,
in der Betrübnis über die Grausamkeiten des großen Kampfes, in welchem, zusammen mit den großen Nationen Europas, sich das mächtige Reich Ihrer Majestät befindet, zerreißt Uns das Echo des schmerzenvollen Stöhnens eines ganzen Volkes, das im Herrschaftsgebiet der Osmanen unbeschreiblicher Leiden unterworfen ist, das Herz.       
Die armenische Nation hat bereits viele ihrer Söhne gesehen, die in den Tod geschickt , in großen Zahlen in die Gefängnisse gesperrt  oder ins Exil verbannt wurden, darunter zahlreiche Kleriker und sogar einige Bischöfe.  
Und nun wurde Uns berichtet, dass die Bevölkerungen ganzer Dörfer und Städte gezwungen wurde, ihre Häuser zu verlassen, um unter großen Schmerzen und unsagbarem Leid in fernen Sammelorten angesiedelt zu werden, wo sie neben psychischen Schikanen auch die furchtbarsten Entbehrungen, die schwerste Not und sogar die Qualen des Hungers ertragen müssen.“
(A.S.V., Arch. Deleg. Turchia 101, Fasc .528, S. 9-10
 
Am 18. Juni 1916 traf im Vatikan ein weiterer Bericht des  Armenisch-katholischen Patriarchen ein:
„Das Projekt zur Vernichtung des armenischen Volkes in der Türkei ist noch immer in vollem Gange. (…) Die exilierten Armenier … werden nach wie vor in die Wüste getrieben und dort aller lebensnotwendiger Mittel beraubt. Sie gehen kläglich an Hunger, Seuchen und dem extremen Klima zugrunde. (…) Es ist sicher, dass die osmanische Regierung beschlossen hat, das Christentum aus der Türkei zu beseitigen, bevor der Weltkrieg zu Ende geht. Und das alles geschieht im Angesicht der christlichen Welt.“
(A.S.V., Arch. Deleg. Turchia 101, Fasc. 527, S. 120)