Michael Hesemann, Historiker und Autor
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War es ein Völkermord?
Was Dokumente aus dem Vatikan über die Ereignisse von 1915/16 verraten

Von Michael Hesemann, Historiker und Autor,
Düsseldorf
 
Hundert Jahre nach den Ereignissen von 1915/16 gibt es noch immer zwei Versionen, was damals geschah. Fast alle unabhängigen Historiker stimmen mit der 1997 verabschiedeten Resolution der „Internationalen Vereinigung von Völkermordforschern“ überein, nach der es sich bei den Massakern an den Armeniern im Osmanischen Reich und den erzwungenen Todesmärschen in die syrische Wüste um einen Völkermord handelte. Bereits am 29. August 1985 hatte die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in einem offiziellen Bericht, ausdrücklich unter Protest „einiger Mitglieder des Unterausschusses“, von einem „Genozid“ gesprochen. Doch während 22 Staaten und sogar das Europäische Parlament in seinen Beschlüssen von 1987 und 2001 das Vorgehen der Türken gegen die Armenier offiziell als „Völkermord“ anerkannten, tut sich ausgerechnet Bundeskanzlerin Angela Merkel in dieser Frage schwer. Als 2012 über 156.000 Deutsche im Rahmen des von ihr initiierten „Dialogs über Deutschland“ ein „Gesetz gegen die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern und Aramäern“ forderten, erklärte sie die Frage zur „bilateralen Angelegenheit Armeniens und der Türkei“. So wurde auch bei den angekündigten Gedenkfeiern für 2015 in Berlin konsequent auf die Bezeichnung „Völkermord“ verzichtet. Der Grund ist Ankara. Denn nach türkischer Lesart fand 1915/16 allenfalls eine kriegsnotwendige Umsiedelung der Armenier statt, zu dem revolutionäre Umtriebe und eine Kollaboration mit dem Kriegsgegner Russland den Anlass boten. Obwohl man sich alle Mühe gegeben habe, sie unter den gegebenen Umständen sicher an ihr Ziel zu bringen, seien durch Überfälle räuberischer Kurden, Hunger und Seuchen um die 300.000 von ihnen ums Leben gekommen; ein bedauerlicher Kollateralschaden, für den Präsident Erdogan im April 2014 den Armeniern sogar sein Beileid aussprach.
In den letzten zwei Jahren habe ich über 2000 Seiten bis dahin unveröffentlichter Dokumente zu den Ereignissen von 1915/16, die dort unter dem Titel „Verfolgung der Armenier“ geführt werden, im Geheimarchiv des Vatikans lokalisiert und ausgewertet. Diesem bislang unbeachteten Quellenschatz verdanken wir nicht nur zusätzliche Informationen, sondern zudem eine völlig neue Perspektive, die vielleicht Aufschluss über die wahre Natur dieses schrecklichen Geschehens geben kann. Die vier entscheidenden Fragen, die uns dabei interessieren, müssen lauten:
 1. Gibt es einen Hinweis darauf, dass die Deportation der Armenier schon vor den angeblichen „Aufständen“ im Frühjahr 1915 geplant waren?
2. Hat es Aktionen der Armenier gegeben, die ein Eingreifen des Staates rechtfertigen könnten?
3. Erscheint das tatsächliche Vorgehen der Türken sinnvoll als Umsiedelung zur Prävention einer Inlandsfront?
4. Inwiefern erfüllt die Armenierpolitik der Jungtürken die Kriterien eines Völkermordes?
 
 
WAREN DIE DEPORTATIONEN BEREITS GEPLANT?
 
Zu 1: Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass eine gewaltsame „Lösung der Armenierfrage“ schon Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs geplant wurde. Der Krieg bot offensichtlich nur den willkommenen und vielleicht lange gesuchten Vorwand für die Durchführung der geplanten Maßnahme.
Eine Untersuchung der Ideologie, die hinter dem radikaleren Flügel der ursprünglich eher heterogenen jungtürkischen Bewegung stand, gibt erste Hinweise. Ihre Wurzeln hat die Partei „Einheit und Fortschritt“ (Ittihat ve Terakki, kurz: Ittihat) im Paris des 19. Jahrhunderts, wo eine Reihe junger Türken aus wohlhabenden Familien studierten und mit den damaligen Strömungen der europäischen Philosophie in Kontakt kamen. Einerseits waren sie von den Idealen der französischen Revolution begeistert, andererseits aber auch vom damals aufkommenden Nationalismus. Der „Integrale Nationalismus“, wie ihn Charles Maurras lehrte, überhöhte die Nation zur semi-mythischen Einheit und propagierte einen starken Staat durch eine homogene Volksgemeinschaft mit einer einheitlichen Staatsreligion. Aus ihm ging in Europa der Faschismus hervor.  Die Schwäche des Osmanischen Reiches, das als „kranker Mann am Bosporus“ verspottet wurde, führten die türkischen Anhänger Maurras auf die Heterogenität des Vielvölkerstaates zurück. Der Abfall der Balkan-Provinzen in den nächsten Jahren, deren christliche Minderheiten, vom Ausland unterstützt, sich in Aufständen befreit hatten, bestätigte sie in ihrer Weltsicht: Die Türkei der Zukunft müsse allein den Türken gehören, die der sunnitische Islam als Staatsreligion zusammenschweißt. Für ethnische und religiöse Minderheiten war in dieser Vision kein Platz.
Tatsächlich schreibt der türkische Historiker Taner Agcam, dass schon im Juli 1910 auf der Versammlung der Ittihat-Spitze in Thessaloniki als „Alternative die Deportation christlicher Bewohner … oder ein gewaltsames Vorgehen“ diskutiert wurde. Glauben wir Johannes Lepsius, so wurde ein Jahr später, im Oktober 1911, ebenfalls in Thessaloniki, beim Jungtürkischen Kongress postuliert: „Die Türkei muss ein wesentlich muhammedanisches Land sein.“ Im Januar 1914 berichtete bereits die russische Zeitung „Golos Moskvy“ über einen „Plan, Anatolien zu homogenisieren“ und die Armenier in das Zweistromland zu deportieren, was freilich damals noch von den Jungtürken dementiert wurde. Erst Anfang März 1915 wurde die sofortige Umsetzung dieses Planes beschlossen. Dabei wollte man den Krieg als Vorwand für eine  „allgemeine und endgültige Säuberung“ nutzen,  um „das armenische Volk vollständig auszurotten“, wie Dr. Nazim Bey, Generalsekretär der Ittihat, auf einer Sitzung der Parteispitze erklärte.  Tatsächlich wurde dieser Parteibeschluss nur Tage später, nämlich am 16.3.1915, dem deutschen Konsul Dr. Paul Schwarz durch den Provinzgouverneur Sabit Bey bestätigt.  Das ZK-Mitglied Nefis Bey hatte bereits im Dezember 1914 mit dem Schweizer Missionar Jakob Künzler über einen solchen Plan gesprochen.
So meldete auch US-Botschafter Henry Morgenthau am 16.7.1915 nach Washington, dass  „es scheint, dass hier eine Programm zur Vernichtung einer Rasse unter dem Vorwand, es seien Maßnahmen gegen eine Rebellion, im Gange ist.“ Und der türkische Innenminister Talaat Bey äußerte sich dem deutschen Botschaftsmitarbeiter Johann Mordtmann gegenüber, wie dieser nach Berlin meldete, „ohne Rückhalt über die Absichten der Regierung, die den Weltkrieg dazu benutze, um mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen aller Konfessionen – gründlich aufzuräumen, ohne durch diplomatische Interventionen des Auslandes gestört zu werden.“
Diese Einschätzung zieht sich auch wie ein roter Faden durch die vatikanischen Dokumente. „‘Armenien ohne Armenier‘ – das ist der Plan der osmanischen Regierung“, berichtete der Generalabt des Mechitaristenordens, Msgr. Ghiurekian, Papst Benedikt XV. am 30. Juli 1915.[i] Vom „Werk der Jungtürken, ermutigt durch die Unterstützung der Deutschen“ spricht der armenisch-katholische Erzbischof von Chalcedon, Msgr. Peter Kojunian, in seinem Schreiben an Papst Benedikt XV. vom 3.9.1915: „Zu den Schrecken des derzeitigen Krieges, die das väterliche Herz Eurer Heiligkeit erschüttern, gehört nicht zuletzt das Massaker an den Armeniern der Türkei, das von der türkischen Regierung angeordnet und zum größten Teil bereits ausgeführt wurde. (…) (Es ist) eine systematische Vernichtung der Armenier in der Türkei.“ [ii] Eine schweizer Initiative mehrerer prominenter Akademiker, die sich für die Armenier einsetzten und im September 1915 auch an den Vatikan wandten, hatte durch „durchaus vertrauenswürdige Augenzeugen“ in Erfahrung gebracht: „Es handelt sich um nichts weniger als die systematische und offiziell beschlossene Ausrottung eines ganzen christlichen Volkes, der Armenier, welche jetzt ins Werk gesetzt wird, weil die vollständige Herrschaft des Islam im türkischen Reich durchgeführt werden soll.[iii]  Der Superior des Kapuzinerordens in Erzurum, der österreichische Pater Norbert Hofer, schrieb im Oktober 1915 an den Vatikan: Die Bestrafung der armenischen Nation (für angebliche Aufstände, d.Verf.) ist bloß ein Vorwand der freimaurerischen türkischen Regierung, um alle christlichen Elemente im Land ungestraft vernichten zu können.“ [iv] Und sein Landsmann und Ordensbruder, der österreichische Kapuzinermissionar Michael Liebl,  brachte in Samsun in Erfahrung: „Nicht die Armenier, die Christen wurden (zum Tode) verurteilt auf einer geheimen Konferenz der Jungtürken  vor 5 oder 6 Jahren in Thessaloniki.“[v] Schließlich stellt auch ein Bericht des Armenisch-Katholischen Patriarchats an den Vatikan vom Februar 1916 fest, „dass die Regierung nur das kriminelle Vermächtnis (des ehemaligen Großwesirs) Midhat Paschas umsetzt, der bereits das christliche Element in der Türkei vernichten wollte.“ Und: „Es ist sicher, dass all diese Ereignisse auf ausdrücklichen Befehl der türkischen Regierung und in Zusammenarbeit mit allen Behörden des osmanischen Reiches stattgefunden haben.“  [vi] 
Tatsächlich findet sich in den vatikanischen Akten ein Dokument, das belegt, dass die Pläne der Deportation von Christen in die syrische Wüste unabhängig von irgendwelchen revolutionären Aktivitäten seitens der Armenier bereits im Dezember 1914 bestanden. „Die türkische Regierung plant, Priester und Schwestern, die aus den kriegsführenden Nationen stammen, festzunehmen und in Konzentrationslager im Landesinnern zu bringen“, hatte der Apostolische Delegat für Syrien, Msgr. Giannini, am 6.12.1914 nach Rom gemeldet. [vii]
 
GAB ES AKTIONEN DER ARMENIER, DIE EINE UMSIEDELUNG RECHTFERTIGTEN?
 
Zu 2: Nein. Erst am 16.3.1915, also nach dem Parteibeschluss, die Armenier zu deportieren, gab Marineminister Cemal Pascha bekannt, in Zeitun sei „eine Revolte ausgebrochen“, die eine Militäraktion notwendig machte; tatsächlich hatte sich gerade eine Handvoll jugendlicher Deserteure ein Scharmützel mit der Polizei geliefert.  Als zweiter „armenischer Aufstand“ wurde der Widerstand der Bewohner von Van einen Monat später, nämlich am 17. April 1915, gewertet. Doch bei genauerer Betrachtung erweist er sich als geradezu erzwungen. Denn erst nachdem der türkische Provinzgouverneur Cevdet Bey in den beiden Wochen zuvor 80 armenische Dörfer im Umland verwüstet und 24.000 Armenier massakriert hatte, weigerten sich die Armenier der Provinzhauptstadt, die geforderte Bereitstellung von 4000 Soldaten zu leisten; zurecht fürchteten sie, dass diese ebenfalls umgebracht würden. Stattdessen verbarrikadierten sie sich in ihrer Siedlung, begann eine wochenlange Belagerung. Sie endete erst, als die russische Armee im Nordosten der Türkei einfiel und die türkischen Soldaten die Flucht ergriffen.
Obwohl der Kriegsverlauf hier den Armeniern zu Hilfe kam, konnte bis heute keine Verbindung zwischen den beiden Ereignissen, kein Kontakt der Belagerten von Van zu den Russen nachgewiesen werden. Wahr ist allenfalls,  dass Armenier, die vor den türkischen Massakern flohen, Zuflucht jenseits des Kaukasus gesucht haben. Eine russisch-armenische Verschwörung dagegen, die auf eine Sabotage der türkischen Kriegspläne hinausläuft, hat es nie gegeben.
Doch selbst wenn es sie gegeben hätte oder zumindest auch nur ein berechtigter Verdacht bestand, wer wäre dann daran beteiligt gewesen? Allenfalls ein paar politische Aktivisten und Revolutionäre, niemals aber das gesamte Volk. Zudem gab es drei armenische „Nationen“ oder Volksgruppen (Millet) im Osmanischen Reich, die sich gegenseitig misstrauten: Die große Mehrheit der gregorianischen (orthodoxen) Armenier, die ca. 100.000 katholischen Armenier und die ca. 50.000 protestantischen Armenier. Sie alle aber  wurden ab dem Frühjahr 1915 von den Türken gleichermaßen verfolgt. Das, obwohl die katholischen Armenier bekannt für ihre Treue zum osmanischen Staat waren. Sie sprachen nicht einmal Armenisch, ihre Sprache war Türkisch. Nirgendwo hätten sie sich weniger hingezogen gefühlt als in das orthodoxe Russland oder die damalige russische Provinz Armenien, in der allein gregorianische Armenier lebten.
Tatsächlich bezog sich ein Großteil der Interventionen des Apostolischen Delegaten in Konstantinopel, Msgr. Angelo Dolci, auf die katholischen Armenier; teils, weil sie ihm näher waren, teils weil er glaubte, hier erfolgreicher als Fürsprecher auftreten zu können. Dabei betonte er immer wieder den Patriotismus der Katholiken[viii] [ix]. Und tatsächlich versprach Innenminister Talaat Pascha ihm und seinen Unterstützern - nämlich dem bulgarischen Außenminister, dem deutschen und dem österreichischen Botschafter - auf einem Diplomatenempfang am 30. August 1915, die katholischen Armenier zu verschonen. [x] Allerdings musste Dolci schon bald feststellen, dass der Türke ihn belogen hatte.[xi] Denn es gab keine Sonderbehandlung der armenischen Katholiken, im Gegenteil. Ehe das Jahr 1916 zuende war, hatten die Türken nicht nur 75 % der orthodoxen Armenier im Osmanischen Reich ermordet, sondern sogar 87 % der armenischen Katholiken.
So stellte auch der italienische Generalkonsul in Trapezunt, Giacomo Guerrini, dessen Bericht an den Vatikan weitergeleitet wurde, fest: „Die katholischen Armenier wurden brutaler als alle anderen behandelt. Sie wurden getäuscht, indem sie zunächst beruhigt und dann letztlich doch verhaftet wurden, und das auf sehr brutale Weise. Ich selbst nahm einige auf und griff ein, um ihre Rechte zu wahren, doch leider ohne Erfolg. Der Befehl wurde auf alle Armenier ohne Ausnahme angewandt, auch auf Frauen, Kinder, Alte und Kranke.“ [xii]
Sicher ist, dass die im Osmanischen Reich immer als eigene Volksgruppe behandelten katholischen Armenier an keiner politischen Aktivität der orthodoxen Gregorianer beteiligt waren. Ihnen bescheinigte, im Gegenteil, der deutsche „Zentrums“-Reichstagsabgeordnete Matthias Erzberger: „Gerade ihre Abneigung gegen die nationalistischen Bestrebungen, die allgemein anerkannt ist, hat ihnen den besonderen Hass ihrer (orthodoxen, d.Verf.) Volksgenossen zugezogen und namentlich ihrem Patriarchen, der die nationalistischen Umtriebe verbot, große Anfeindung eingetragen.“[xiii]  Ebenso sicher ist, dass auch auf orthodoxer Seite Frauen, Kinder, Alte und Kranke zu keinerlei Aufständen oder politischen Aktivitäten in der Lage waren; deportiert wurden sie trotzdem. Auch die Nähe zur russischen Grenze spielte keine Rolle, denn auch die armenischen Katholiken aus Angora (Ankara) wurden deportiert. Im Fall der Armenier von Urfa wurden diese sogar auf den Weg nach Norden, nach Diyarbekir, statt in Richtung der syrischen Wüste geschickt – allein um dort in den Gebirgsschluchten massakriert zu werden. Wie völlig absurd die türkische Erklärung für die Deportationen war, stellt auch ein Bericht des armenisch-katholischen Patriarchats fest: „Es heißt, die Umsiedelung der Armenier sei in den Augen der türkischen Militärbehörden notwendig geworden. Vielleicht wäre sie zu rechtfertigen, wenn sie nur in den Kriegsgebieten stattgefunden hätte, doch tatsächlich sind sogar Familien aus weit von der Front entfernten Gebieten und solchen, die überwiegend von Türken bewohnt werden, aus ihrer Heimat vertrieben worden.“ [xiv]
 
Dabei aber beschränkte sich der Vernichtungsplan der Jungtürken nicht bloß auf die Armenier. Auch Christen anderer Konfessionen, speziell Assyrer und Aramäer, wurden deportiert und massakriert „Es wird geschrieben und berichtet, dass die Türken die Armenier massakriert haben. Die Wahrheit ist, dass die Türken neben den Armeniern auch andere Christen ermordeten: Syrische Katholiken, syrische Monophysiten, Chaldäer, Nestorianer etc.“ schrieb der syrisch-katholische Patriarch Ignace Ephrem II. Rahmani an den Heiligen Stuhl, „alle Christen, die in den zahlreichen Dörfern dieser Region lebten, wurden gleichermaßen umgebracht, darunter auch eine große Anzahl nicht katholischer Armenier und monophysitischer Syrer.“ [xv]  So stellte auch der Kapuzinerpater Liebl in einen Bericht an den Apostolischen Delegaten vom 3. März 1916 fest: „Im Gegensatz zu den Versicherungen der türkischen Beamten sage ich, dass es sich in Wahrheit um eine religiöse Verfolgung handelt, dass die Armenier nur deshalb verfolgt werden, weil sie Christen sind.“[xvi] Der einzige Ausweg, der zumindest betroffenen Frauen und Kindern angeboten wurde, war die Konversion zum Islam. Sie wurden dann in muslimische Haushalte gegeben, als Nebenfrauen oder Sklavinnen muslimischer Männer. Bis heute haben die Türken keine Erklärung dafür, was diese Maßnahme mit der angeblichen politischen Unzuverlässigkeit der Armenier zu tun haben könnte.
 
WAR ES ÜBERHAUPT EINE KRIEGSNOTWENDIGE UMSIEDELUNG?
 
Zu 3: “Die Osmanische Regierung entschied, die Armenier, die an den Aufständen beteiligt waren, an einen sicheren Ort zu überführen, nämlich nach Syrien und in den Libanon … Der Einwanderungsvorgang war insofern erfolgreich, wie die meisten Armenier sicher nach Syrien überführt wurden” – so jedenfalls beschreibt das türkische Kultur- und Tourismusministerium in seiner 2009 erschienenen Broschüre „An Outline of 2000 Years of Turkish History“ die Deportation der Armenier. Es zeugt allerdings von einigem Zynismus, die Vertreibung eines Volkes in die Wüste, die nur von etwa 20 % der Betroffenen überlebt wurde, als „sicher“ und „erfolgreich“ zu bezeichnen.
Wobei es bei der „Umsiedelung“ der Armenier tatsächlich ging, schilderte der Superior der Kapuziner von Erzurum, der Österreicher P. Norbert Hofer OFMCap, in einem Bericht an den Vatikan vom Oktober 1915 wie folgt:  „Das Wort ‚Deportation‘ bedeutet: 
1. Die absolute Trennung der Männer von ihren Ehefrauen und der Mütter von ihren Kindern.
2. Drohungen und Schmeicheleien der türkischen Gesandten, um alle zu zwingen, ihrer  Religion abzuschwören. Diejenigen die dieses taten -und es waren viele-, wurden unmittelbar in ausschließlich muslimische Dörfer geschickt, von wo sie nicht mehr zurückkamen.
3. Die Entführung der Frauen; sie werden zunächst nach ihren physischen Eigenschaften aufgeteilt und dann entweder in den Harem verkauft oder gezwungen, die unwürdigen Bedürfnisse der türkischen Beamten oder der Wachsoldaten zu befriedigen.
4. Die kleinen Mädchen werden vielfach als Dienerinnen in türkische Haushalte gegeben, die sich verpflichten, sie entsprechende muslimisch zu erziehen. Einige von ihnen wurden bis nach Konstantinopel geschickt. An anderen Orten werden alle christlichen Jungen beschnitten und dann in türkische Häuser gegeben. Nach dem Abschluss der Selektionen werden die  Überlebenden gezwungen, alle ihre Güter, Häuser und Geld abzugeben und ins Landesinnere zu ziehen. Sie werden von brutalen Gendarmen begleitet und müssen pausenlos von Dorf zu Dorf wandern, mit unbekanntem Ziel. Völlig demoralisiert durch ihren Schmerz und die plötzliche Trennung, ist ihr Körper oft nicht mehr in der Lage, dem Wetter und den anderen Widrigkeiten zu widerstehen und so sterben viele von ihnen unterwegs. Andere werden auch massakriert.“ [xvii]
Diese Darstellung bestätigte der Apostolische Delegat in Konstantinopel, Msgr. Dolci, als er am 20. August 1915 nach Rom meldete: „Es ist unmöglich, sich eine Vorstellung davon zu machen, was im Landesinnern geschieht. Die gesamte armenische Bevölkerung wird systematisch auf brutalste Weise aus ihren Städten und Dörfern vertrieben und an unbekannte Orte verschleppt. Manchmal erlauben sie diesen Unglücklichen, Alte, Kranke, Kinder und ihre dringendsten Gegenstände mit Karren zu transportieren. Meistens aber müssen alle diese armen Menschen in größeren Gruppen den Weg zu Fuß zurücklegen durch die trockene Landschaft, wo viele von ihnen durch völlige Erschöpfung, Leiden und Entbehrungen aller Art nach ein paar Tagen den Tod finden. Anderen werden unter dem Vorwand, sie zu schützen, bewaffnete Eskorten mitgegeben, doch leider wird diese Begleitung oft zu der größten Gefahr für die Deportierten. Tatsächlich wurden nämlich viele Karawanen, sobald sie in verlassenere Gegenden kamen, von ihren Führern (den Gendarmen) massakriert.“ [xviii]
Die detaillierten Augenzeugenberichte, die im Vatikanarchiv liegen, lassen tatsächlich keinen Zweifel daran, dass es den Türken nicht um die möglichst reibungslose Umsiedelung eines Teiles der Bevölkerung aus der Kampfzone, sondern um deren Vernichtung ging. Nur so ist der türkische modus operandi zu verstehen, der immer gleich ablief:
  1. Suche nach angeblichen Waffen, um einen Vorwand für die Abschiebung zu haben.
  2. Verhaftung und anschließende Ermordung der armenischen Notablen.
  3. Verhaftung der armenischen Männer von 16-70 unter dem Vorwand, sie zum Militärdienst einzuziehen. Nur wenige wurden tatsächlich zu Straßenarbeiten und Trägerdiensten verpflichtet. Der größte Teil wurde vor die Städte geführt und in einiger Entfernung von diesen massakriert.
  4. Deportationsaufruf an die Frauen, Kinder und Alte. Wer freiwillig zum Islam konvertierte, wurde in türkische Familien verschleppt, alle anderen auf einen wochenlangen Fußmarsch durch das Bergland geschickt. Ihr Eigentum mussten die Meisten zurücklassen; wer es mitnehmen durfte, wurde auf dem Weg ausgeraubt.
  5. Diverse Überfälle, bei denen die Züge entschieden dezimiert, die Frauen vergewaltigt und ausgeraubt oder gefangen und in die Sklaverei verkauft wurden. Dabei bot die „Polizeieskorte“ der Züge keinen Schutz, sondern beteiligte sich an den Ausschreitungen. So stellte der Ordensgeneral der Mechitaristen, Msgr. Ghiurekian, in seinem Brief an Papst Benedikt XV. fest: „Nicht nur Kurden und Briganten, sondern Gendarme und Regierungsbeamte kommen zusammen, um sie auszuplündern und die Frauen und Mädchen zu schänden.“[xix] Das armenisch-katholische Patriarchat ergänzte: „Jeder weiß, dass die Regierung zu Beginn des Krieges Kriminelle aus den Gefängnissen entließ, um die ‚Cetes‘ genannten Horden („Sondereinheiten“, d.Verf.) zu bilden, die in den östlichen, überwiegend von Armeniern bewohnten Provinzen zum Einsatz kamen. Diese ‚Cetes‘ begannen, die Dörfer der Armenier zu brandschatzen, ihre Frauen und jungen Mädchen zu schänden und ihre Notablen zu ermorden.“ [xx]  Zudem wurde den Deportierten Wasser, Brot und Unterkunft verweigert. Wer nicht auf dem Weg an den grassierenden Seuchen erkrankte oder an Hunger und Erschöpfung starb, erreichte sein Ziel, die syrische Wüste, oft genug nackt, ausgezehrt und von der Sonne verbrannt.[xxi]
  6. Nur ca. 20 % der Deportierten erreichte ihr Ziel, ein Konzentrationslager in der syrischen Wüste. Dort wurde zunächst auf die natürliche Dezimierung durch Hunger und Seuchen gehofft, dann fanden weitere Massaker oder Todesmärsche in die Wüste statt. Maximal 3 % der Deportierten überlebten das folgende Jahr (1916).
Angesichts dieser Tatsachen ist es geradezu perfide, von einer „erfolgreichen, sicheren Überführung“ zu sprechen, obwohl die Sterbequote bei 97 % lag.
 
… ODER WAR ES EIN VÖLKERMORD?
 
Zu 4: Die Resolution 180 der UN-Vollversammlung vom 21. November 1947 definiert Völkermord in Artikel II als „eine der folgenden Handlungen, begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
a) das Töten von Angehörigen der Gruppe
b) das Zufügen von schweren körperlichen oder seelischen Schäden bei Angehörigen der Gruppe
c) die absichtliche Unterwerfung unter Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung der Gruppe abzielen
d) die Anordnung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung
e) die zwangsweise Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“
 
In Dutzenden Dokumenten aus dem Vatikanarchiv werden die Massaker an den Armenier-Konvois durch Soldaten, Milizen und Regierungsangehörige geschildert. Die ganze Umsiedelung selbst scheint nur dem Ziel gedient zu haben, die Armenier so stark zu dezimieren, dass nur noch ein Bruchteil die überfüllten Konzentrationslager in der syrischen Wüste erreichte, wo das Töten fortgesetzt wurde. Die Verweigerung von Lebensmitteln und Wasser – die Armenier wurden sogar daran gehindert, aus Flüssen zu trinken! – und die Gewaltmärsche durch das Bergland führte zum Tod von Hunderttausenden, die fortdauernden Schikanen und Vergewaltigungen, der Diebstahl aller Kleider, die Folter und die Brutalität der Gendarmen bei Zigtausenden zu seelischen Schäden, vom Wahnsinn bis zum Selbstmord. Der Kapuzinersuperior P. Norbert Hofer zitiert in seinem Bericht den österreichischen Priester D. Dunkl, der in Aleppo erlebte, in welchem Zustand die Armenierinnen waren, die es immerhin bis an den Rand der syrischen Wüste geschafft hatten: „Normalerweise kommen nur die Frauen bis Aleppo; denn die Männer sterben schon vorher entweder an ihren Leiden oder werden massakriert.
Im Hof eines ‚Khans‘ (Karawanserei) in der Nähe von Aleppo sah er (P. Dunkl, d. Verf.) auf der nackten Erde sitzend, inmitten ihrer eigenen Ausscheidungen, mehrere hunderte Frauen, darunter viele Mütter mit ihren bereits toten oder noch lebenden Kinder an der Brust. Sie alle waren in einem apathischen Zustand oder kurz davor zu sterben. Eine protestantische Diakonisse – die übrigens versuchte, mit allen Mitteln die Leiden der unglücklichen Frauen zu lindern – erzählte, dass sie täglich etwa zwanzig Leichen von dem oben genannten Hof wegschaffen musste.
Eine katholische Nonne, die kurz zuvor in Aleppo eingetroffen war, erzählte, dass sie mit sechs weiteren Schwestern aus Tokat ausgewiesen wurde. Sie alle wurden entkleidet und mussten so, ganz nackt, die Reise von mehr als einer Woche bis Aleppo unternehmen. Fünf der Begleiterinnen sind auf dem Weg verstorben, waren ihrer Erschöpfung und der Torturen, die sie ertragen mussten, zum Opfer gefallen. Eine wurde in der Nähe der Stadt (Aleppo) verrückt und ertränkte sich in einem Fluss. Der Erzählerin gelang es, sich der Kleidung einer auf der Straße liegenden Leiche zu bemächtigen, sich anzukleiden und in die Stadt zu fliehen, wo sie von anderen Nonnen, die vorher angekommen waren, aufgenommen wurde.“ [xxii]
Die Zahl der Opfer wird in den vatikanischen Dokumenten auf über eine Million geschätzt. Ein Bericht des armenisch-katholischen Patriarchats, der im Februar 1916 verfasst wurde, erwähnt bereits „beinahe 1.000.000[xxiii] Opfer, wohlbemerkt noch vor den Massakern in der syrischen Wüste. Msgr. Dolci dagegen ging bereits am 20.12.1915 von 1,1 Millionen Toten aus[xxiv], während der Kapuzinerpater Michael Liebl am 30. September 1917, also nach den Massakern, konstatierte: „Von den 2,3 Millionen in der Türkei wohnenden Armeniern sind ein und eine halbe Million von den Türken ausgerottet worden.“[xxv] Von 1,5 Millionen Toten geht heute auch die seriöse Armenozid-Forschung aus.
Auch die „Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“ gehört zu den traurigen Kapiteln des Armenozids. „Eine große Zahl armenischer Kinder (der Zeuge glaubte, dass es 1000 waren), wurden am Geburtstag des Sultans beschnitten und zu Türken gemacht. Viele Frauen und Kinder wurden in türkische Häuser gezwungen“, berichtete der Rottenburger Priester Johannes Straubinger, deutscher Militärgeistlicher in der Türkei, dem Apostolischen Delegaten.[xxvi]Hunger und Drohungen treiben (armenische Frauen, d.Verf.) in die Häuser der Türken. Die Kinder werden dann von selbst türkisch oder als sogenannte ‚Kriegswaisen‘ auf staatlichem Wege vertürkt“, schrieb, stark verharmlosend, der deutsche Reichstagsabgeordnete Matthias Erzberger an den Vatikan, um in seiner Anlage zu ergänzen: „Jetzt sind tausende von Waisen Sklaven in moslemischen Familien.“[xxvii] Ein Bericht des armenisch-katholischen Patriarchats präzisiert: „Die schutzlos zurückgebliebenen Frauen und Mädchen wurden oft genug noch in ihrer Heimat oder auf dem Weg entführt und in türkische Harems verschleppt. Überall haben die örtlichen Behörden Kinder beiderlei Geschlechts den Armen ihrer Mütter entrissen und an die Türken ausgeliefert. (…) Die erzwungenen Konversionen der Frauen und jungen Mädchen gehen in die Tausende. (…) Die Propaganda der Zwangsbekehrung läuft bis heute, sie wird von den höchsten Repräsentanten der türkischen Regierung befürwortet[xxviii], ein Umstand, den auch der Kapuzinerpater Michael Liebl aus Samsun bestätigte: „Die Mädchen und jungen Frauen wurden meist gewaltsam in die Harems gesteckt und mit Türken verheiratet.“[xxix]
 
War es also ein Völkermord, was sich 1915-16 im Osmanischen Reich abspielte? Die Dokumente aus den Vatikanarchiv lassen keinen Zweifel daran, dass der Armenozid nahezu alle Kriterien erfüllt, die von den Vereinten Nationen definiert worden sind.
 
 
 

 
 
Michael Hesemann ist als Historiker für die amerikanische „Pave the Way“ Foundation und als Dozent für Kirchengeschichte an der katholischen Gustav-Siewerth-Akademie, Bierbronnen, tätig. Seit 2008 recherchiert er im Vatikanischen Geheimarchiv. Sein Buch „Völkermord an den Armeniern“ erscheint Ende Februar 2015 im Herbig-Verlag München

Verzeichnis der zitierten Dokumente aus dem Vatikanischen Geheimarchiv (A.S.V.), dem Archiv des vatikanischen Staatssekretariats (A.A.E.E.S.S.) und dem Archiv der Kongregation für die Orientalischen Kirchen (A.C.O.):
 
[i] A.A.E.E.S.S., Austria-Ungheria (Turchia), III, periodo 1915, pos. 1058, fasc. 458, no. 9466, S. 21-24
[ii] A.S.V., Segr. Stato, Questione Armena, B.S. 174, 3.9.1915, Kojunian an Benedikt XV.
[iii] A.A.E.E.S.S., Austria-Ungheria (Turchia), III, periodo 1915-1916, pos. 1069, fasc. 462, no. 10294, S. 42-44
[iv] A.S.V., Segr. Stato, Guerra (1914-18), rubr. 244, Fasc. 110, S. 260-262
[v] A.S.V., Arch. Deleg. Turchia, busta 101, fasc. 527, S. 88-89
[vi] A.S.V., Arch. Deleg. Turchia, busta 101, Fasc. 528, S. 2-4
[vii] A.S.V., Segr. Stato, Guerra (1914-18), rubr. 244, Fasc 110, S. 57 -58
[viii] A.S.V., Arch. Deleg. Turchia, busta 101, Fasc. 527, S. 13
[ix] A.C.O., Armeni, fasc. 2950/28, Dolci an Gasparri, 20.8.1915
[x] A.S.V., Arch. Deleg. Turchia, busta 101, Fasc. 527, S. 30 (Entwurf) und 42 f. (Reinschrift)
[xi] A.A.E.E.S.S., Austria 472, Dolci an Pacelli, 14.12.1915
[xii] A.S.V., Segr. Stato Guerra (1914-18), rubr. 244, fasc. 110, S. 165-66
[xiii] A.A.E.E.S.S., Austria-Ungheria (Turchia), III periodo 1916, pos. 1075 e 1077, fasc. 466, no. 15412, S. 10ff.
[xiv] A.S.V., Arch. Deleg. Turchia, busta 101, fasc. 528, S. 2-4
[xv] A.S.V., Seg. Stato Guerra (1914-18), rubr. 244, Fasc.111, S. 84-97, hier: S. 92 f.
[xvi] A.S.V., Arch. Deleg. Turchia, busta 101, fasc. 527, S. 88-89
[xvii] A.S.V., Arch. Deleg. Turchia, busta 101, fasc. 527, S. 245-246
[xviii] A.C.O., Armeni, Fasc. 2950/28
[xix] A.A.E.E.S.S., Austria-Ungheria (Turchia), III, periodo 1915, pos. 1058, fasc. 458, no. 9466, S. 21-24
[xx] A.S.V., Arch. Deleg. Turchia, busta 101, Fasc. 528, S. 2-4
[xxi] A.S.V., Arch. Deleg. Turchia, busta 101, fasc. 527, S. 88-89; A.S.V.. Arch. Deleg. Thurchia, busta 101, fasc. 527, S. 120-143
[xxii] A.S.V., Segr. Stato, Guerra (1914-18), rubr. 244, fasc. 110, S. 260-262
[xxiii] A.S.V., Arch. Deleg. Turchia, busta 101, Fasc. 528, S. 2-4
[xxiv] A.C.O., Armeni del Patriarcato 1891-1926, rubr. 105, 3, Nr. 37021
[xxv] A.S.V., Arch. Nunz. Monaco di Baviera, busta 342, fasc. 1, S. 5 ff.
[xxvi] A.S.V., Arch. Deleg. Turchia, busta 97, fasc. 503, S. 268 ff.
[xxvii] A.A.E.E.S.S., Austria-Ungheria (Turchia), III periodo 1916, pos. 1075 e 1077, fasc. 466, no. 15412, S. 10ff.
[xxviii] A.S.V., Arch. Deleg. Turchia, busta 101, Fasc. 528, S. 2-4
[xxix] A.S.V., Arch. Nunz. Monaco di Baviera, busta 342, fasc. 1, S. 5 ff.