Michael Hesemann, Historiker und Autor
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Gedenkfeier für die Opfer des Genozids an den Armeniern 1915

Frankfurt, Paulskirche, 24. April 2013

24. April 2013 – Gedenktag für die Opfer des Völkermordes an den Armeniern 1915 in der Frankfurter Paulskirche.
Ansprache von Michael Hesemann, Autor und Historiker:


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Meine sehr verehrten Damen und Herren,

„Schon bei der Verfolgung der Armenier im Jahre 1915, die an Grausamkeit den Christenverfolgungen der ersten christlichen Jahrhunderte nicht nachsteht, wurde vielfach die Meinung laut, dass die Deutsche Regierung und besonders die deutschen Katholiken für diese Greuel vor Gott und der Geschichte mit verantwortlich gemacht werden würden, wenn sie nicht alles aufböten, um nach Kräften diese Ausschreitungen zu verhindern."[1]

Dies, meine Damen und Herren sind nicht meine Worte gewesen. Sie stammen auch nicht aus unserer Zeit, sondern aus dem Jahre 1918, als die Erinnerung an den ersten großen Völkermord des 20. Jahrhunderts noch frisch war und die berechtigte Sorge bestand, dass die bestialischen Gräueltaten der Türken an unseren christlichen Brüdern und Schwestern sich wiederholen könnten. Das musste um jeden Preis verhindert werden. Das meinte, das versuchte der Verfasser des oben zitierten Briefes, der auf den 2. April 1918 datiert ist. Sein Autor war kein geringerer als der damalige Erzbischof von Köln, der Vorsitzende der Fuldaer Bischofskonferenz, Felix Kardinal von Hartmann (1851-1919). Ich fand eine Kopie dieses Briefes im Geheimarchiv des Vatikans, zu dem Sie mir bitte zunächst ein paar Worte erlauben.

Wer von Ihnen die Romane Dan Browns gelesen hat, der muss einen etwas abenteuerlichen Eindruck vom Archivio Segreto Vaticano – so der offizielle Name – haben. Tatsächlich aber besteht es aus keinen meilenweiten unterirdischen Gängen, sondern liegt in einem Seitenflügel der Vatikanischen Museen. Der Eingang liegt auf dem Cortile del Belvedere, die Arbeitsräume sind im dritten Stock. Außer einer etwas strengeren Kleiderordnung unterscheidet es sich in keiner Weise von anderen Staatsarchiven, etwa dem Bundesarchiv in Koblenz oder dem National Archive in Washington D.C. Sein „geheimnisvoller“ Name ist allein dem Umstand zu verdanken, dass sich hier eben die internen Korrespondenzen, nicht die öffentlichen Dokumente der Päpste und ihrer Dikasterien befinden.  Und trotzdem ist es der Lebenstraum eines jeden Historikers, hier arbeiten zu dürfen. Wer dies darf, ist freilich streng geregelt. Die Zahl der Mitarbeiter ist ebenso begrenzt wie die der Arbeitsplätze (sprich: Tische) für die forschenden Historiker, und so sind es in erster Linie logistische Zwänge, die den Zugang zum Vatikanarchiv auf einige wenige, Auserwählte beschränken. Auswahlkriterium ist dabei keineswegs die Glaubenstreue, nicht einmal das Taufbuch, sondern allein die wissenschaftliche Kompetenz. Wer nachweisen kann, dass er ein Thema ernsthaft bearbeitet und noch dazu ein Empfehlungsschreiben einer anerkannten Hochschule oder Forschungseinrichtung vorweisen kann, hat gute Chancen, den begehrten Zugangsausweis („Tessera Ingressi“) zu erhalten.  Ich erhielt ihn im November 2008, weil ich für ein Buch über Papst Pius XII. recherchierte, der von 1917 bis 1925 Apostolischer Nuntius in Bayern war. Damals gab es noch keine Nuntiatur in Berlin, es bestanden keine diplomatischen Beziehungen zur preußischen Regierung, alles, was das Deutsche Reich betraf, wurde über München abgewickelt. Als ich die Akten der Nunziatura di Monaco durchstöberte, stieß ich auf eine Akte (Arch. Nunz. Monaco 385, Fasc. 7), die sich mit der Armenischen Frage beschäftigt; in ihr befindet sich der oben erwähnte Brief. Doch die Akte, die sich wohlbemerkt mit einer Intervention Anfang 1918 beschäftigt, enthüllt noch mehr – und wirft ein bezeichnendes Licht auf den Völkermord von 1915, also drei Jahre zuvor.

Anfang 1918 war es erneut im Osten des Osmanischen Reiches zu Ausschreitungen gegen Armenier gekommen, die Anlass zur Sorge gaben. Sofort wurde der Heilige Stuhl angeschaltet, an Papst Benedikt XV. appelliert, der schon 1915 erfolgreich zugunsten der Armenier bei der Hohen Pforte interveniert hatte. Doch obwohl der Papst selbst erneut persönlich an den Sultan appellierte, fuhr er zweigleisig und schaltete zugleich seinen Nuntius in Deutschland, Pacelli, ein. So ging am 7. März 1918 ein verschlüsseltes Fernschreiben an die Nuntiatur in Bayern, in dem Pacelli von Kardinalstaatssekretär Gasparri im Auftrag Benedikts XV. gebeten wurden, bei der kaiserlichen Regierung des Deutschen Reiches zugunsten der Armenier zu intervenieren.[2] Diese Vorgehensweise hatte ihren Grund und ihre Vorgeschichte.

Im April 1915 hatte der türkische Kriegsminister Enver Pascha die Zwangsdeportation großer Teile der armenischen Bevölkerungsminderheit des Osmanischen Reiches in die syrische Wüste angeordnet. Was offiziell als militärisch bedingte „Evakuierung“ einer politisch unzuverlässigen Minderheit deklariert wurde, erwies sich als der erste große Genozid des 20. Jahrhunderts. Die Bewegung der Jungtürken wollte das multi-ethnische Osmanische Reich in einen Nationalstaat mit pantürkischer Ideologie verwandeln, in dem die christlichen Armenier keinen Platz mehr hatten. Die „endgültige Lösung“ dieses Minderheitenproblems war der Völkermord. Sein Ausführender wurde der Militärbefehlshaber und Generalgouverneur von Syrien, Cemal Pascha. Die Gesamtzahl der Opfer betrug 1,5 Millionen. Sie fielen teils den türkischen Massakern zum Opfern, teils wurden sie in die syrische Wüste getrieben, wo sie verhungerten, verdursteten, an Schwäche oder durch Seuchen starben. Vor allem dem evangelischen Theologen und Orientalisten Dr. Johannes Lepsius ist es zu verdanken, dass der Völkermord bei seiner Rückkehr nach Deutschland Ende August 1915 bekannt wurde. Lepsius kontaktierte u.a. den katholischen Zentrums-Abgeordneten Matthias Erzberger, der wiederum den Papst informierte. So schrieb Benedikt XV. bereits am 10. September 1915, also fast unmittelbar nach Erhalt von Erzbergers Bericht, an den osmanischen Sultan Mehmed V. und bat um „Mitleid mit dem Schicksal … des schwer bedrängten armenischen Volkes, das an den Rand der Vernichtung gebracht wurde«. Zwei Monate später, am 10. November, antwortete der Sultan dem Papst und versicherte, es sei „eine spürbare Verbesserung der Lage dieses unglücklichen Volkes eingetreten.“[3] Die Wahrheit, so zynisch es klingen mag: Die Zahl der Armenier war zu diesem Zeitpunkt  schon so stark dezimiert worden, dass es keinen Grund für weitere Massaker gab.

Zwei Jahre später ließen die Situation an der Südostgrenze des Osmanischen Reiches, der arabische Aufstand und der drohende Vorstoß der Briten Cemal Pascha in Palästina aktiv werden, wo die jüdischen Siedler fürchteten, seine nächsten Opfer zu werden. In Jaffa kam es zu Ausschreitungen gegen 8000 Juden, die der Kollaboration mit den Briten angeklagt wurden, Ende März 1917 meldete die Nachrichtenagentur „Reuters“, auch aus Jerusalem seien „Massen von Juden“ vertrieben worden, die „das Schicksal der Armenier teilen“ würden.[4] Als die Gefahr immer größer wurde, im November 1917, appellierten die Juden an den Papst, der nun Pacelli einschaltete. Offenbar war man sich im Vatikan sofort bewusst, wie ernst die Lage und wie groß die Gefahr war, als sich der Vergleich mit dem Schicksal der Armenier aufdrängte. Sofort kontaktierte Pacelli den königlich-bayerischen Außenminister Ritter von Dendl, der wiederum beim Auswärtigen Amt in Berlin intervenierte. Das Ergebnis: Cemal Pascha wurde sofort abgezogen und durch den deutschen General von Falkenhayn ersetzt.

Der Erfolg dieser Intervention ist der Grund, weshalb der Heilige Stuhl wieder auch den parallelen Weg über Deutschland ging, als zu Anfang des Jahres 1918 neue Schreckensberichte aus dem Osmanischen Reich den Vatikan erreichten. Die Oktoberrevolution in Russland hatte die Situation an der Nordostfront des Osmanischen Reiches völlig verändert. Der osmanisch-russische Freundschaftsvertrag vom 1. Januar 1918 und der folgende Friedensvertrag von Brest-Litowsk vom 3. März 1918, legten fest, dass alle russischen Eroberungen aus dem Krieg 1877/78 an das Osmanische Reich zurückfielen. Die Armenier, die vor dem Völkermord von 1915 in eben diese Gebiete geflohen waren, mussten damit erneut um ihr Leben fürchten. Pacelli handelte wieder. Am 9. März schrieb er nun persönlich an den Reichskanzler Georg Graf von Hertling, einen Katholiken:
„Seine Eminenz, der Herr Kardinalstaatssekretär hat mich telegraphisch beauftragt, im Namen des hl. Vaters angelegenheitlichst und dringlichst mich bei Seiner Majestät, dem Kaiser und bei Euerer Exzellenz zu verwenden, dass Seine Majestät und die hohe Reichsregierung allen Einfluss aufwenden, um zu erreichen, dass die armen Armenier von den Türken in schonender Weise behandelt werden in jenen Gebieten, welche der Türkei durch den Friedensvertrag mit Russland zufallen.
Darum ersuche ich Euere Exzellenz höflichst und drigendst, Seine Majestät den Kaiser für eine diesbezügliche Intervention gewinnen zu wollen.“[5]
Die Antwort traf fünf Tage später ein. Die Kaiserliche Regierung habe sich bereits nach dem Vertragsschluss
„mit der Kaiserlich Ottomanischen Regierung wegen der Frage der Behandlung der armenischen Bewohner dieser Provinzen in Verbindung gesetzt. Dabei haben wir uns überzeugen können, dass die Türkische Regierung entschlossen ist, die Armenier mit Milde zu behandeln…“[6]
   Doch es blieb nicht bei dieser Versicherung. Nein, von Hertling und mit ihm die kaiserliche Reichsregierung, ergriff Partei – gegen die Armenier. Sie sollen sich gefälligst den Türken unterwerfen, forderte er. Zitat:
„Die Wiederkehr friedlicher Zustände ist aber selbstverständlich nur möglich, wenn die Armenier sich der türkischen Regierung unterwerfen, ihre jetzt völlig aussichtslos gewordenen poltischen Wünsche aufgeben und loyal zu ihrer Untertanenpflicht zurückkehren.“[7]
Leider würden sie von im Ausland lebenden Komitees aufgestachelt werden, etwa auch durch den in Paris befindlichen Vertreter des armenischen Katholikos Boghos Nubar Pascha, der die englische Regierung um Entsendung von Offizieren und Mannschaften zur Unterstützung der kämpfenden Armenier gebeten haben soll. Offenbar wollten sich die Armenier nicht erneut wie Schafe zur Schlachtbank treiben lassen. Von Hertling weiter:
„Sollte der Herr Kardinalstaatssekretär Mittel und Wege finden, um dem unverantwortlichen Treiben derer, die die Armenier zum nutzlosen Widerstande aufreizen, entgegenzutreten, so könnte dadurch schweres Unglück von dem christlichen Volke angewandt werden, an dessen Lose Seine Eminenz so warmen Anteil nimmt.“[8]
Das war eine massive Drohung. Entweder würden sich die Armenier ihren einstigen Schlächtern unterwerfen, oder ihnen drohe „schweres Unglück“. Pacelli bestätigte lediglich den Erhalt des Schreibens, leitete eine Übersetzung an den Heiligen Stuhl weiter.

Doch Hertling legte nach. Mit einem erneuten Schreiben an Pacelli, vom 18. April 1918, also einen Monat später, zitiert er den Bericht eines „deutschen Beamten, der aus russischer Gefangenschaft befreit“ über Trapezunt nach Konstantinopel gereist war und von den Gräueltaten armenischer Banden gehört habe. Dabei räumte derselbe Beamte aber auch ein: „Auf meinem Reisewege an der Küste konnte ich von armenischen Banden nichts bemerken.“[9] Dass reine Gerüchte au türkischen Quellen als „Beweis“ angeführt wurden, zeigte deutlich, wie schwach die deutsche Position war.
  
Der Grund für diesen „Nachschlag“ war Kardinal von Hartmanns Brief, der zwischenzeitlich sowohl den Grafen von Hertling wie die Nuntiatur und damit auch den Heiligen Stuhl erreicht hatte. Von Hartmann freilich verfügte über allerbeste Quellen zur Lage in Ostanatolien. Er war nicht nur Präsident des „Deutschen Vereins vom Heiligen Lande“, der in Palästina und Syrien aktiv war; seine Schwester, eine Ordensfrau, leitete zudem die deutsche Missionsstation in Tell Halaf und war Dank ihrer Kontakte zu deutschen Soldaten und armenischen Flüchtlingen bestens über die Lage orientiert, über die sie ihren Bruder in einer Reihe von Briefen informierte. So schrieb Kardinal von Hartmann an Reichskanzler von Hertling am 2. April 1918:
„Aus der Türkei kommen sehr beunruhigende Nachrichten, die fürchten lassen, dass sich die Armenier-Greuel (gemeint ist der Völkermord von 1915) erneuern werden. Mit Bestimmtheit verlautet, dass die türkische Regierung vor Wochen schon an die verbündeten und neutralen Regierungen Berichte über aufständische Banden geschickt hat, welche sich türkischen Einwohnern gegenüber grausam benommen haben sollen. In den christlichen Kreisen herrscht darüber große Beunruhigung, da man fürchtet, dass es sich bei diesen Berichten um eine Erfindung oder wenigstens eine sehr starke Übertreibung handele, die der türkischen Regierung aus Vorwand dienen solle zur Vernichtung der noch übrig gebliebenen armenischen oder gar christlichen Bevölkerung im Inneren des Landes.“ [10]

Das sind harte, das sind eindeutige Worte. Doch Kardinal von Hartmann hatte gute Gründe für sein Drängen, die eigentlich auch den Katholiken von Hertling überzeugen müssten:
„Namentlich wird das feindliche Ausland den deutschen Katholiken eine schwere Schuld aufbürden, wenn sie nicht nach besten Kräften der Armenier sich annehmen…
Eure Exzellenz bitt ich daher, nachdrückliche Schritte zu tun, um eine drohende neue Verfolgung von den Armeniern abzuwenden und alles aufzubieten, damit die bei der ersten Verfolgung angerichteten himmelschreienden Greuel sich nicht wiederholen.“[11]
So empfahl er, ähnlich wie General von Falkenhayn nach Palästina geschickt wurde, auch hier „baldigst eine deutsche Militärperson“ zu beauftragen, um „die Verhältnisse an Ort und Stelle zu überprüfen.“
   Er schließt mit den Worten: „Euere Exzellenz brauche nicht zu versichern, dass nicht bloss das Mitleid mit den eigenen Glaubensgenossen, sondern vor allem auch die Sorge um die Ehre des deutschen Namens mich veranlasst, diesen Appell an Euere Exzellenz zu richten.“[12]
 Mit anderen Worten: Würde das Deutsche Reich jetzt nicht intervenieren, sondern weiterhin die türkischen Verbrechen decken, mache es sich mitschuldig an dem bis dahin größten Völkermord der Geschichte.
Am 13. April  1918 antwortete von Hertling und sein Schreiben ist Beweis genug, dass man genau wusste, welche Verbrechen 1915 begangen wurden. Ja, man habe sich mit der Hohen Pforte „wegen der Frage der Behandlung der Armenier in Verbindung gesetzt und eindringlichst darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, dass beim Einmarsch der türkischen Truppen in die von den Russen geräumten Gebiete Ausschreitungen gegen die armenische Bevölkerung vermieden“ werden sollen:
Nach den bündigen Erklärungen, die der Grosswesier, der Minister des Aeussern und sein Vertreter den deutschen amtlichen Stellen gegenüber abgegeben haben, ist man zu dem Vertrauen berechtigt, dass die türkische Zentralregierung zur Milde gegen die Armenier entschlossen ist und (…) ähnliche Vorgänge, wie sie sich im Jahre 1915 abgespielt haben, zu verhüten wissen wird.“[13]
Pacelli genügt diese Versicherung der deutschen Seite nicht, ihm klangen die Versprechen der Türken wohl zu vage. Kardinalstaatssekretär Gasparri scheint es ähnlich gesehen zu haben und mit ihm der Papst. So wurde zu einem letzten Mittel gegriffen, um den Deutschen aufzurütteln und an sein Gewissen als Katholik zu appellieren. Pacelli übersandte ihm vertraulich eine Abschrift des ursprünglich handschriftlichen Briefes, den Benedikt XV. bereits am 12. März 1918 an Sultan Mehmed V geschrieben hatte. Darin erklärte der Papst, er wolle dem Sultan
„unsere Angst mitteilen, die durch Nachrichten ausgelöst wurde, die uns erneut erreicht haben, und uns dazu bringen, Ihnen unsere Befürchtung mitzuteilen, dass sich die unbeschreiblichen Leiden dieser Unglücklichen wiederholen könnten, die sie bereits in der Vergangenheit erlitten haben.“
Darum flehte er:
„Mögen die unbewaffnete und unschuldige Bevölkerung (dieser größtenteils von Armeniern bewohnten Gebiete) verschont und beschützt werden (…) mögen die armen Armenier reichlich Ihr herrscherliches Erbarmen und Ihre Gnade erfahren! Wir hoffen, dass Eure Majestät sich nach unseren Mahnrufen richten werden und Sie (…) angemessene Vorkehrungen zu Gunsten dieser Unglücklichen treffen, die vom Krieg so schwer getroffen wurden.“[14]

Diese beeindruckenden Worte des Nachfolgers Petri stehen offenbar unter dem starken Eindruck der Ereignisse von 1915, die Benedikt XV. regelrecht schockiert haben müssen.
Er habe diese „von wahrer Menschenliebe und hehrem Pflichtgefühl getragenen Worte, die Seine Heiligkeit zu Gunsten der Armenier gesprochen hat, mit tiefer Bewegung gelesen“[15], antwortete Reichskanzler von Hertling. Und schließlich handelte er doch. Am 7. August 1918 berichtete er in einer „Promemoria“ an Nuntius Pacelli:
„Vor den in ihr Gebiet einrückenden türkischen Truppen hatten in Südkaukasien Tausende von Armeniern ihre Heimstätten verlassen und sich in die Berge geflüchtet, wo sie mangels jeglicher Zufuhr auf die Dauer dem Hunger preisgegeben waren. Sie wandten sich an uns mit der Bitte, ihnen von der Türkischen Regierung die Erlaubnis zu bewirken, in ihre Heimstätten zurückzukehren und ihre Ernte zu bergen. Nachdem di Türkische Regierung sich anfänglich (…) ablehnend verhalten hatte, hat sie jetzt auf unsere von Österreich-Ungarn unterstützten Vorstellungen zugesagt, sofort mit der Rückführung der armenischen Flüchtlinge in ihre Heimat zu beginnen.“[16]
  
Wir wissen heute, dass dies nur ein Hoffnungsschimmer am Horizont war, der den Leidensweg des armenischen Volkes keineswegs beendete. Doch was uns allein diese Akte enthüllt, lässt keinen Zweifel daran, dass bereits im Spätsommer 1915 das Ausmaß der Verbrechen bekannt war, ohne dass auch nur der geringste berechtigte Zweifel an den Tätern bestand, ja die Situation so eindeutig war, dass der Papst persönlich zu Gunsten der Opfer appellierte. Kein Historiker, der diesen Titel verdient hat, kann die schreckliche Realität des Völkermordes an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten leugnen. Wer es dennoch tut, ist entweder ein Ignorant oder wird von den Tätern bezahlt – auf jeden Fall aber ist er ein Scharlatan!

Weiter sehen wir, dass auch die deutsche Seite sich keine Illusionen darüber machte, welche Verbrechen ihr osmanischer Verbündeter begangen hatte. Man nahm die Lage so ernst, dass man sofort intervenierte, als den Juden in Palästina ein ähnliches Schicksal drohte.
  
Und doch wurde abgewehrt, als 1918 neues Unrecht an den Armeniern drohte. Offenbar war der Reichsregierung der osmanische Verbündete wichtiger als das Schicksal christlicher Glaubensbrüder, obwohl man, wie gesagt, genau wusste, was 1915 geschehen war; mit keinem einzigen Wort wurden die schrecklichen Ereignisse von damals bestritten. Der Grund mag darin liegen, dass die Armenier weniger Möglichkeiten hatten, sich im Reich Gehör zu verschaffen, als jüdischen Mitbürger, weil einfach im Reich nahezu keine Armenier lebten.

Mit dieser Politik der Passivität hat damals auch Deutschland Schuld auf sich geladen – eine Mitschuld durch Wegschauen und Beschwichtigen. Umso größer ist heute die Verantwortung, das Versagen der damaligen Reichsregierung schonungslos aufzuklären. Gerade weil unser damaliger Verbündeter, die Türkei, diese Verbrechen beging, dürfen wir uns heute nicht von eben dieser Türkei verbieten lassen, ihrer Opfer zu gedenken. Der Völkermord von 1915, der Adolf Hitler das Vorbild zu dem größten Verbrechen des Nationalsozialismus, der Schoa, lieferte, ist zu wichtig und zu schrecklich, um in den Geschichtsbüchern zu fehlen. Ihn zu leugnen hieße, auch weiterhin die islamofaschistischen Täter zu schützen. Das aber muss endlich ein Ende haben, das sind wir mutigen Männern wie Kardinal von Hartmann schuldig, die damals schon kein Blatt vor den Mund nahmen und die Mächtigen aus der Politik aus ihrem christlichen Gewissen heraus mit der unbequemen Wahrheit konfrontierten. Dass diese immer noch verschwiegen wird, aus falscher Rücksicht auf das Regime in Ankara, ist eine Schande und befleckt nach wie vor den deutschen Namen. Nie mehr darf dieses bestialische Menschheitsverbrechen geleugnet werden. Nie wieder!

Ja, wir Deutsche sind zwar kein Mit-Täterwolk, aber ein Mit-Wisservolk, das damals versagt hat, die Verbrechen der Türken vor der Welt anzuprangern und es auch heute noch tut – und darüber bin ich als Deutscher tief beschämt. Gerade weil aber auch ein Mitwissen Mitschuld bedeutet, hat Deutschland vor allen anderen Staaten Europas die historische Pflicht, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen.
  
Ich möchte schließen mit dem Gebet, das der große Papst Johannes Paul II. sprach, als er im September 2001 in Eriwan die Gedenkstätte für den armenischen Genozid besuchte und in dem er den Appell Benedikts XV. ausdrücklich erwähnte. Auch seine Worte sind ein glühender Appell gegen das Leugnen und Vergessen, das auch die Täter trifft.
Denn nur die Wahrheit macht uns frei, um zu vergeben.
 
GEBET VON JOHANNES PAUL II. 
Tzitzernagaberd-Gedenkstätte
Eriwan, 26. September 2001

 
Richter der Lebenden und der Toten, erbarme dich unser! 
Herr, höre die Klage, die von diesem Ort aufsteigt, 
die Stimme der Toten aus dem Abgrund des »Metz Yeghérn«, 
den Schrei des unschuldigen Blutes, das schreit wie das Blut Abels, 
wie Rachel, die um ihre Kinder weint, die nicht mehr sind. 
Herr, höre die Stimme des Bischofs von Rom, 
in der die Bitte seines Vorgängers Papst Benedikt XV. nachklingt, 
der im Jahr 1915 seine Stimme erhob zum Schutz 
»des schwer bedrängten armenischen Volkes, 
das an den Rand der Vernichtung gebracht wurde«. 
Schau auf das Volk dieses Landes, 
das seit so langer Zeit in dich sein Vertrauen setzt, 
schwere Bedrängnisse durchgemacht 
und nie die Treue zu dir verringert hat. 
Trockne die Tränen in seinen Augen 
und gib, daß sein Leiden im 20. Jahrhundert 
Raum schaffe für eine Ernte des ewigen Lebens. 
Tief bedrückt durch die schreckliche Gewalt, die dem armenischen Volk angetan wurde, 
fragen wir uns bestürzt, wie es möglich ist, 
daß die Welt noch so unmenschliche Verirrungen erfahren muß. 
Herr, indem wir unsere Hoffnung auf deine Verheißung erneuern, 
bitten wir für die Verstorbenen um die ewige Ruhe in Frieden 
und um Heilung der noch offenen Wunden durch die Macht deiner Liebe. (…)
Richter der Lebenden und der Toten, erbarme dich unser! [17]


[1] A.S.V., Arch. Nunz. Monaco d.B. 385; Fasc.7, p. 21 ff.
[2] A.S.V., Arch. Nunz. Monaco d.B. 385; Fasc. 7, p. 8
[3] A.S.V., Arch. Nunz. Monaco d.B. 385; Fasc.7, p. 37 f.
[4] Zit.n. Pinchas Lapide, Rom und die Juden, Bad Schussenried 2005
[5] A.S.V., Arch. Nunz. Monaco d.B. 385; Fasc. 7, p. 9
[6] Ebd.
[7] Ebd.
[8] Ebd.
[9] A.S.V., Arch. Nunz. Monaco d.B. 385; Fasc. 7, p. 15 f.
[10] A.S.V., Arch. Nunz. Monaco d.B. 385; Fasc. 7, p. 21 ff.
[11] Ebd.
[12] Ebd.
[13] A.S.V., Arch. Nunz. Monaco d.B. 385; Fasc. 7, p. 25
[14] A.S.V., Arch. Nunz. Monaco d.B. 385; Fasc.7, p. 37f.
[15] A.S.V., Arch. Nunz. Monaco d.B. 385; Fasc. 7, p. 40
[16] A.S.V., Arch. Nunz. Monaco d.B. 385; Fasc. 7, p. 50