Michael Hesemann, Historiker und Autor
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Zwischen Bangen und Hoffen

Ägyptens Christen stehen wieder einmal zwischen den Fronten
 
Von Michael Hesemann
 
 
Einem Christen kann Ägypten nicht gleichgültig sein. Denn das Land am Nil ist, neben Mesopotamien, nicht nur die zweite Wiege der Zivilisation, sondern auch heiliges Land. Heilig schließlich ist jeder Fleck auf Erden, wo sich Gott den Menschen offenbarte. So manifestierte sich der Alte Bund in den Ländern des sogenannten „fruchtbaren Halbmonds“, in den Kulturen am Nil, Jordan, Euphrat und Tigris: Abrahams Berufung in Ur, das gelobte Land, die Befreiung der Juden aus  der Knechtschaft in Ägypten, die
Gesetzesübergabe auf dem Sinai.

Wenngleich Gott in Nazareth Mensch wurde und sein Licht zuerst in der Finsternis der Höhle von Bethlehem
erstrahlte, ließ die Todesdrohung des Herodes die Heilige Familie gleich darauf nach Ägypten fliehen. Dort, so sind zumindest die Christen des Nillandes überzeugt, wirkte der nicht einmal einjährige Jesusknabe seine ersten Wunder. Sechs Jahrzehnte später schickte der hl. Petrus seinen Dolmetscher und Vertrauten Markus, den Verfasser des zweiten Evangeliums, in die damalige ägyptische Hauptstadt Alexandria,  dessen jüdische Gemeinde als die größte der antiken Welt galt; insgesamt lebten zu seiner Zeit rund eine Million Juden am Nil.

Hier fiel das Evangelium von Anfang an auf fruchtbaren Boden. Das trockene Klima und der warme Sand der Wüste bewahrten die Zeugnisse des frühen ägyptischen Glaubenslebens. So verdanken wir dem Nilland die ältesten bekannten Abschriften der Evangelien und Apostelbriefe ebenso wie ganze Bibliotheken orthodoxer wie heterodoxer Christen.

Das erste schriftlich fixierte Mariengebet aus dem 3. Jahrhundert, das fast wörtlich dem lateinischen „Sub tuum praesidium“ entspricht,  wurde hier einem Toten auf dem Weg in die Ewigkeit mitgegeben. Auch das Mönchtum nahm seinen Anfang in den Karsthöhlen zwischen dem Nil und dem Toten Meer, in denen im 3. Jahrhundert auch der hl. Antonius lebte. Sogar den Kanon, den wir als „Neues Testament“ bezeichnen,
verdanken wir einem Ägypter, dem Patriarchen Athanasius von Alexandria. Ohne Ägypten, ohne die Schriften der Väter vom Nil, wäre die Tradition der Kirche ein ganzes Stück ärmer.

Erst mit dem Konzil von Chalcedon 451 n.Chr. spaltete sich die ägyptische Christenheit vom „mainstream“ der
Orthodoxie ab. Sie beschloss, an einen Jesus zu glauben, der nur eine, unver-
mischte Natur hat, die vom Göttlichen dominiert wird, während sich die Konzilsväter auf die Formel einigten,
Jesus von Nazareth habe zwei Naturen besessen, sei „ganz Gott und ganz Mensch“ gewesen. Das war die Geburtsstunde der koptischen Kirche, was nichts anderes als „ägyptisch“ bedeutet, denn der Begriff „Kopten“ ist vom griechischen „egyptos“ abgeleitet, woraus später im Arabischen al‘qipt“ wurde.

Nur der koptische Kalender hat einen anderen Ausgangspunkt. Sein Jahr „0“ ist 284 n.Chr., der Beginn der „Ära der Märtyrer“, genauer: der Machtergreifung des römischen Kaisers Diokletian, unter dem der Osten des Reiches die blutigste Christenverfolgung der Geschichte durchlitt. Aus dieser Erfahrung beziehen die Kopten noch heute ihr Selbstverständnis als „Kirche der Märtyrer“. Tatsächlich gibt es kaum ein koptisches Gotteshaus, in dem nicht Gebeine der Toten dieser Verfolgung als Reliquien verehrt werden. Doch „Märtyrerblut ist Christensaat“ – auf die Jahre der Verfolgung folgte die eigentliche Glanzzeit der ägyptischen Christenheit, jene drei Jahrhunderte, in denen Alexandria mit Rom, Konstantinopel und Antiochia um die Führungsrolle in der Weltkirche stritt.

Das ändere sich schlagartig, als die Söhne Muhammads im Jahre 640 das Land eroberten. Im folgenden Jahrhundert strömten arabische Stämme in Scharen in das fruchtbare Niltal, das einst als Kornkammer des römischen Reiches galt. Durch sie wurden die christlichen Ureinwohner zur Minderheit. Wurden sie zunächst von den Muslimen toleriert, begann unter dem fanatischen Fatimidenkalifen al-Hakim schon zu Ende des 10. Jahrhunderts die nächste Welle der Verfolgung. Beamte wurden zwangsislamisiert, Kirchen geplündert und enteignet, öffentliche Zurschaustellungen des christlichen Glaubens verboten. Doch die Kopten blieben geradezu trotzig ihrem Glauben treu – und wurden, ein gutes Jahrtausend lang, zur „Nation in der Nation“, machtlos und doch elitär in ihrem Bewusstsein, die „wahren Ägypter“, die Erben der Pharaonen zu sein. Damit waren sie für die muslimische Mehrheit im Lande zum Sündenbock prädestiniert. Während der Kreuzzüge, aber auch in den Zeiten der Fremdherrschaft, der wechselvollen Geschichte des Landes seit seiner Eroberung durch Napoleon Bonaparte  1798, gerieten sie immer wieder in den Verdacht, die „fünfte Kolonne" des jeweiligen Feindes zu sein. Das wiederum führte die Kopten immer weiter in die Isolation zwischen den Fronten. Sie verbündeten sich im 13. Jahrhundert mit den Muslimen gegen die Kreuzritter, sie verboten im 20. Jahrhundert Pilgerreisen nach Jerusalem, um bloß nicht bezichtigt zu werden, mit der argwöhnisch beäugten „Feindmacht“ Israel zu sympathisieren.
 
Wer diese Geschichte kennt, für den ist es wenig überraschend, dass die Kopten auch im 21. Jahrhundert in die Frontlinie des „Krieges der Zivilisationen“ gerieten, der seinen Anfang mit den Anschlägen vom 11. September 2001 nahm. Während der Islamismus an Zulauf gewann, während sich immer mehr Muslime vom Westen bevormundet und übervorteilt fühlten, entluden sich die aufgestauten Aggressionen nicht selten an den Kopten. Die schrecklichen Bilder von der Neujahrsnacht, die neuerlichen Nachrichten über weitere Ausschreitungen gegen die christliche Minderheit, sind noch zu gut im Gedächtnis. Das plötzliche Interesse des Westens an den diskriminierten Kopten und den Missständen in Ägypten stieß dann auch zunächst auf politische Abwehrreaktionen. Deutsche Parlamentarier wurden ebenso harsch in die Schranken verwiesen wie Papst Benedikt XVI.; beiden warfen ägyptische Regierungskreise eine „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ des Landes vor. Dabei  waren die Anschläge auf die Kopten auch eine Kapitulationserklärung des Mubarak-Regimes, das offensichtlich nicht mehr in der Lage war, seine Bürger zu schützen. Dass der ägyptische Staatspräsident zudem nach wie vor beharrlich leugnet, dass Angehörige der christlichen Minderheit in seinem Land diskriminiert werden, lässt ihn zunehmend unglaubwürdig erscheinen. Denn natürlich herrscht keine Gleichberechtigung in einem Land, in dem die Scharia von der Verfassung zur Rechtsgrundlage erklärt wird – jene islamische Gesetzgebung, die Christen praktisch zu Menschen zweiter Klasse werden lässt. So mussten die Kopten in der Vergangenheit oft genug erleben, dass ihre Mörder vor Gericht frei gesprochen wurden. Das änderte sich erst am 16. Januar 2011, als ein Attentäter, der zum koptischen Weihnachtfest 2010 in einer Kirche im mittelägyptischen Nag Hammadi sechs Christen und einen muslimischen Wachmann erschossen hatte, demonstrativ zum Tode verurteilt wurde. Ein Aktionismus, der mehr als alles andere die Verunsicherung der ägyptischen Behörden demonstrierte. In den letzten 30 Jahren waren über 3000 Christen wegen ihres Glaubens ermordet worden und die Regierung hatte stets tatenlos zugesehen. Ähnlich hilflos waren die Versuche, die Schuld an dem Attentat von Alexandria abwechselnd al-Qaeda oder den israelischen Geheimdienst zu unterstellen. Denn vor dem Anschlag hatten muslimische Fundamentalisten geschlagene dreizehn Wochen lang nach dem Freitagsgebet in der Stadtmoschee von Alexandria demonstriert und öffentlich zum Mord an Christen und dem koptischen Papst Shenouda III. aufgerufen, dem 117. Nachfolger des hl. Markus auf dem Thron des Patriarchen von Alexandria. Polizei und Behörden ließen sie dabei gewähren - und wunderten sich öffentlich, als jemand in die Tat umsetzte, was fanatische Redner zu seiner Glaubenspflicht erklärt hatte. In staatlichen Schulbüchern werden Kopten diffamiert, ihnen werden öffentliche Ämter vorenthalten, im ägyptischen Parlament sind sie gerade mit einem Prozent der Abgeordneten vertreten, obwohl sie 10-15 % der Bevölkerung ausmachen. Echte Demokratie ist in der ägyptischen Präsidialrepublik bislang noch ein Fremdwort.
 
Dass der Westen bislang keine Reformen einforderte, hat freilich seinen Grund. Nicht ganz zu Unrecht hat Staatspräsident Mubarak bislang auf die Gefahr verwiesen, dass bei freien Wahlen die radikalislamische Muslimbruderschaft an die Macht käme.

Unbestreitbar ist aber auch, dass ihre Popularität speziell in der ägyptischen Unterschicht oft nur eine Folge der sozialen Ungerechtigkeiten und der zunehmenden Verarmung weiter Kreise der Bevölkerung ist. Die nämlich ist jung und unzufrieden. Gut die Hälfte der 83 Millionen Ägypter ist jünger als 24 Jahre,  über die Hälfte von ihnen sind arbeitslos. Über 40 % der berufstätigen Ägypter verdienen weniger als einen Euro am Tag und sind mit den ständig wachsenden Preisen speziell für Lebensmittel überfordert. Ein soziales Netz existiert ebenso wenig wie eine medizinische Grundversorgung. Am gravierendsten aber sind die Bildungsmissstände; noch heute gelten gut 50 % der Bevölkerung als Analphabeten. Dass sie schnell zu Opfern religiöser wie politischer Verführer werden, liegt auf der Hand.
 
Die Unruhen der letzten Tage freilich haben in Ägypten die Karten neu gemischt. Hier geht es, wie es scheint, um den Aufstand des Volkes gegen ein überaltertes, korruptes und autoritäres Regime, das ihnen nur Armut und Unterdrückung gebracht hat. Das Beispiel Tunesiens hat den Menschen gezeigt, wie erfolgreich und relativ unblutig ein Regimewechsel vonstatten gehen kann und sie zur Nachahmung ermutigt. Das Regime ist angeschlagen, es wankt, wie ein angezählter Boxer, der gleich zu Boden gehen wird.

Wie schwach, wie verletzlich und isoliert es ist, hat es nach dem Attentat von Alexandria gezeigt. Der Westen steht jetzt vor der Entscheidung, auf welche Seite er sich stellt, ob er für Stabilität oder Demokratie eintritt, mit allen Konsequenzen. Doch es ist ohnehin unwahrscheinlich, dass es Mubarak noch einmal gelingt, die wachsende Unruhe in der Bevölkerung niederzuknüppeln. Wenn seine Regierung die nächsten Wochen überleben will, muss sie spürbar auf Reformkurs gehen.
 
Die Christen Ägyptens aber stehen wieder einmal zwischen den Fronten. Unter Mubarak sind sie Menschen zweiter Klasse, doch zumindest offiziell sanktioniert. Ein neues, demokratisches Ägypten, in dem sie gleichberechtigt integriert sind, wäre ihr Traum. Doch ebenso besteht die Gefahr, dass die fanatische Muslimbruderschaft an Macht gewinnt und sich ihr Los nur noch mehr verschlechtert. So riefen Vertreter der koptischen Kirche die Gläubigen zunächst zur Zurückhaltung auf, lautet „Abwarten“ ihre Devise, richten sie ihre sorgenvollen Blicke auch auf uns. Wird der Westen sie wieder einmal ignorieren? Oder wird er ihre Gleichberechtigung endlich zum Prüfstein für die Legitimität einer neuen ägyptischen Regierung erklären? Einmal wieder spiegeln ihre Gebete das ewige Wechselspiel zwischen Bangen und Hoffen wieder, heute wie eh und je, im Jahr 1727 der Ära der Märtyrer.

("Die Tagespost", 25.1.2011)