Michael Hesemann, Historiker und Autor
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Im Zeichen des Kreuzes


Michael Hesemann:
"Im Zeichen des Kreuzes: 2012/13 –
Das Jahr des Glaubens und unser Auftrag zur Reevangelisierung Europas"
Vortrag auf dem Kongress „Freude am Glauben“
Aschaffenburg, 16. September 2012
 
Eminzenzen, Exzellenzen, Hochwürdige Herren, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde!
 
Das Wunderbare an unserem Heiligen Vater ist sein großes Feingefühl dafür, woran es unserer Zeit fehlt und seine Offenheit für die Bedürfnisse der Menschen und der Kirche. Es ist ein wahrhaft inspirierendes Pontifikat, das wir erleben dürfen, wofür wir dem Herrn nur danken können und beten, dass uns dieser Papst noch viele Jahre erhalten bleibt. Mögen die Engel ihn gerade in diesen Tagen auf seiner Reise in den Libanon beschützen, auf der ich ihn, offen gesagt, auch gerne begleitet hätte. Aber „Freude am Glauben“ ist mir Verpflichtung!

   Hier wieder ein Beispiel für den Weitblick des Heiligen Vaters:
 Vor einem Jahr stand ich in Mannheim vor ihnen – sagen wir mal: vor vielen von ihnen – und appellierte dafür, 2012/13 zum „Jahr des Kreuzes“ zu erklären, zum Auftakt zu einer Rückbesinnung auf die Wurzeln unseres Glaubens und einem Aufbruch zur Erneuerung des christlichen Europas.

   Es gab und gibt dafür einen ganz konkreten Anlass, der auch ein wenig mit dem Fest der Kreuzerhöhung in Verbindung steht, das wir am Freitag, dem ersten Tag dieses Kongresses, gemeinsam feiern durften.
   In diesen Tagen vor genau 1700 Jahren war Konstantin der Große, der Sohn eines der vier Kaiser (nämlich des Constantius Chlorus) in der Tetrarchie, der Vierkaiserherrschaft des Diokletian, auf dem Weg nach Rom, um seinen Thron zu beanspruchen. Den hatte ihm ein Usurpator mit dem Namen Maxentius streitig gemacht. So marschierte Konstantin mit seinen Legionen, rund 40.000 Mann, gen Italien. Ende September erreichte er über die Via Flaminia den Felsen von Saxa Rubra, 14 km vor Rom, wo er sein Lager aufschlug. Den nächsten Schritt seines Gegners abwartend, reflektierte Konstantin an dieser Stelle sein Leben, fragte sich, wofür er stand und welches Schicksal ihn vor die Tore Roms geführt hatte.

   Die Antwort kam, glauben wir seinem Biografen Eusebius von Caesarea, in Form einer Himmelserscheinung. Das auf jeden Fall will Eusebius aus dem Munde des Kaisers persönlich bestätigt bekommen haben, wie er in seiner „Vita Constantini“ ausdrücklich betont. Wörtlich: „Um die Stunden der Mittagssonne herum, als sich der Tag schon neigte, habe er mit eigenen Augen, behauptete er, am Himmel selbst, über der Sonne befindlich, ein Kreuz gesehen, aus Licht bestehend, und mit ihm die Worte vernommen: Touto Nika - In diesem Zeichen siege!“ Auch sein gesamtes Heer habe diese Erscheinung gesehen. In der folgenden Nacht erschien ihm Christus im Traum und forderte ihn auf, das Zeichen des Herrn auf die Schilde seiner Soldaten zu malen (so Lactantius, der ebenfalls über die Vision schrieb) und eine Standarte, das Labarum, mit diesem anzufertigen (so Eusebius).

   Was auch immer die Ursache dieser Erscheinung war – vielleicht ein Naturphänomen wie ein sogenanntes Halo, verursacht durch die Brechung der Sonnenstrahlen -, sie veränderte die Welt. Denn in der Tat besiegte Konstantin am Tag darauf seinen Widersacher in der Schlacht an der Milvischen Brücke und marschierte im Triumph in Rom ein. Für die Christen endete damit die Ära der Verfolgungen. Mit dem sogenannten Toleranzedikt von Mailand vom Mai 313 wurde das Christentum zur legalisierten Religion, wurden Christen in den Staatsdienst aufgenommen, spielten sie fortan eine Rolle in der Führung des Römischen Imperiums, bis Theodosius schließlich 380 das Christentum zur Staatsreligion erklärt. Zwölf Jahre nach seinem Marsch auf Rom, 324, hatte Konstantin das gesamte Reich unter seiner Führung vereint und die christlichen Bischöfe nach Nizäa eingeladen, um interne Streitigkeiten beizulegen und gemeinsam ein für alle gültiges Glaubensbekenntnis zu formulieren. Noch im selben Jahr brach seine Mutter Helena ins Heilige Land auf, wo sie, wenn wir der Legende Glauben schenken, dabei war, als Arbeiter bei der Freilegung des Heiligen Grabes auf eine unterirdische Grotte stießen, in der das „Wahre Kreuz“ des Herrn versteckt worden war. Fortan wurde es zur wichtigsten Reliquie der Grabeskirche, während Partikel in der ganzen Welt Verbreitung und Verehrung fanden, die größte in Deutschland übrigens im Limburger Dom.

   Im Zeichen des Kreuzes also wurde das christliche Europa vor genau 1700 Jahren begründet, ein Europa, das der Sklaverei und Menschenverachtung der heidnischen Antike eine Absage erteilte und die Gleichwertigkeit aller Menschen in ihrer Gottebenbildlichkeit postulierte. Es war ein Europa, das der Welt Werte wie Demut vor Gott, Brüderlichkeit, soziale Verantwortung und Achtung vor dem menschlichen Leben schenkte. Ein Europa, in dem wahre Höhenflüge der Kunst und der Wissenschaft möglich waren, weil seine Religion gleichermaßen befreite und inspirierte. Aber auch ein Europa, das in den vergangenen Jahrzehnten immer häufiger seine christlichen Wurzeln vergaß und, berauscht von den Moden des Säkularismus und Relativismus, seine Identität verleugnete. Das Kreuz wurde in diesem neuen Europa immer häufiger aus den öffentlichen Räumen verbannt, aus Schulen und Krankenhäusern, aus Gerichtssälen und Amtsstuben, ja sogar aus den Werbeprospekten der Fremdenverkehrsämter wie unlängst, als man das Gipfelkreuz auf der Zugspitze aus einem Katalog wegretouchierte, weil man arabische Touristen nicht verschrecken wollte. So als sei die Schönheit unserer Traditionen etwas, das wir verstecken müssten.

   Aus diesem Grund, um das Kreuz wieder in die öffentlichen Räume und das öffentliche Bewusstsein zu tragen, appellierte ich vor einem Jahr auf diesem Kongress dafür, 2012/3 zum „Jahr des Kreuzes“ zu erklären. Ich schrieb auch an den Heiligen Vater, in der Hoffnung, dass ihm mein bescheidener Vorschlag vielleicht gefallen könnte. Doch Benedikt XVI. hatte zu diesem Zeitpunkt eine noch größere Vision, die ebenfalls das kommende Jahr betrifft, das er nämlich stattdessen zum „Jahr des Glaubens“ erklärte.

   Dieses „Jahr des Glaubens“, das am 11. Oktober 2012 in Rom feierlich eröffnet wird und das an den 40. Jahrestag der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils erinnern soll, könnte der Höhepunkt des Pontifikats unseres Heiligen Vaters werden, denn es dringt vor zum Kern unseres Christseins. Das Kreuz ist das Symbol für unsere Erlösung, doch ohne den Glauben an den Erlöser ist keine Erlösung möglich. Am Glauben mangelt es unserer Zeit, nicht an Kreuzen, die ja nur ein Ausdruck dieses Glaubens sind. Und unsere wichtigste Aufgabe ist es natürlich nicht, Symbole zu pflegen wie eine liebgewonnene Tradition, unsere wichtigste Aufgabe ist die Verkündigung des Evangeliums, genauer gesagt: Die Neuevangelisierung Europas. Eben dies, „Die Neuevangelisierung zur Weitergabe des christlichen Glaubens“, ist dann auch Thema der Vollversammlung der Bischofssynode, die der Heilige Vater für Oktober 2012 einberufen hat.

   So schreibt Papst Benedikt XVI. in seinem Apostolischen Schreiben „Porta Fidei“ – „Die Tür des Glaubens“ vom 11. Oktober 2011:
„ Die Erneuerung der Kirche geschieht auch durch das Zeugnis, das das Leben der Gläubigen bietet.
Aus dieser Sicht ist das Jahr des Glaubens eine Aufforderung zu einer echten und erneuerten Umkehr zum Herrn, dem einzigen Retter der Welt. Im Geheimnis seines Todes und seiner Auferstehung hat Gott die rettende Liebe vollends offenbart und ruft die Menschen durch die Vergebung der Sünden zur Umkehr des Lebens (vgl. Apg 5,31).“
Ist das nicht eine wunderbare Vision des Heiligen Vaters: eine Erneuerung der Kirche durch eine Erneuerung des Glaubens, eine Umkehr zum Herrn?

   Doch wie kann das konkret ausschauen, wie können wir diese Vision in unserem Leben verwirklichen? Erlauben Sie mir, noch einmal den Heiligen Vater zu zitieren:
„Nur glaubend also wächst der Glaube und wird stärker; es gibt keine andere Möglichkeit, Gewissheit über das eigene Leben zu haben, als sich in ständig zunehmendem Maße den Händen einer Liebe zu überlassen, die als immer größer erfahren wird, weil sie ihren Ursprung in Gott hat. (…)
Das Bekenntnis des Glaubens selbst ist ein persönlicher und zugleich gemeinschaftlicher Akt. (…)
In ebendieser Aussicht soll das Jahr des Glaubens einen einhelligen Einsatz für die Wiederentdeckung und das Studium der grundlegenden Glaubensinhalte zum Ausdruck bringen, die im Katechismus der Katholischen Kirche systematisch und organisch zusammengefasst sind.“
 
Vertiefung des Glaubens also und Verkündigung, glaubwürdig Zeugnis ablegen in einer Welt, die den Glauben immer mehr verdrängt und zur Privatsache erklärt, ja zum großen Tabuthema. Schalten wir doch mal den Fernseher ein,  dann bekommen wir ein ebenso realistisches wie erschütterndes Bild von der Gesellschaft, in der wir heute leben. Eine Gesellschaft, in der man selbst in Nachmittags-Talkshows über die intimsten Dinge völlig ungehemmt redet – nur nicht über den Glauben. In der selbst ehemalige Präsidentengattinnen ihre Eheprobleme in Interviews breittreten. In einer Gesellschaft, in der sexuelle Vorlieben, Eheprobleme, Gesundheitsprobleme, was auch immer, in aller Offenheit vor den Mitmenschen ausgebreitet werden – und die doch zusammenzuckt, wenn auf einmal jemand von seiner Hoffnung auf Erlösung spricht. Wir leben in einer Gesellschaft, in der vor laufender Kamera geküsst, gestrippt und Unzucht getrieben wird – aber nie gebetet. Und die auch noch glaubt, das sei normal. Diese Tabuisierung des Religiösen betrifft übrigens nicht allein das Christentum. Es war ja schon makaber, mitanzusehen, wie ausgerechnet in Deutschland darüber diskutiert wurde, ob es sich bei der Beschneidung Neugeborener – im Judentum am achten Tag! – um Körperverletzung handeln könnte, während die Abtreibung Ungeborener längst gesellschaftlich akzeptiert ist. Also Töten ist in Ordnung, nur nicht, ein Stück Haut abzuschneiden. Ja, wo ist denn da die Logik, wo bleibt denn da der gesunde Menschenverstand, mag man sich fragen, doch die Antwort ist ganz offensichtlich: Die Beschneidung hat ja etwas mit Religion zu tun!

   So gesehen dienen die arabischen Touristen vielleicht sogar nur als Vorwand dafür, das lästige Kreuz von der Zugspitze wegretouchieren zu können, sind es nicht einmal die muslimischen Mitbürger, wegen derer die Kreuze aus den Amtsstuben und Krankenhäusern verschwinden. Denn, mit Verlaub gesagt, wer sich als Araber erlauben kann, in Europa Urlaub zu machen, der ist mit Sicherheit gebildet genug, um zu wissen, dass hier noch immer mehrheitlich Christen leben. Nein, es verrät uns viel mehr über das Unbehagen der Verantwortlichen, wenn sie mit dem Glauben und seiner Symbolik konfrontiert werden. Und dem müssen wir entgegenwirken, wenn wir unseren Kindern und Enkeln noch ein christliches Europa vererben wollen, statt vor dem Islam auf der einen Seite und dem Atheismus auf der anderen Seite zu kapitulieren.

   Wissen Sie, ich glaube an die Ökumene. Und damit meine ich nicht das, was man gemeinhin in Deutschland darunter versteht – also dass die Katholiken wie die Protestanten werden sollen, damit sie auf Augenhöhe in Dialog mit den Protestanten treten können, wie man hierzulande gerne meint. Nein, das meine ich bestimmt nicht. Denn, bei allem Respekt vor unseren lutherischen Brüdern und Schwestern: Ich sehe nicht, dass die starke Verweltlichung der EKD zu vollen Kirchen und vielen Berufungen geführt hat. Im Gegenteil, es ist ein Vakuum entstanden, das oft durch Ersatzreligiosität wie etwa die Esoterik gefüllt wird.

   Als umso beeindruckender empfinde ich, wo immer ich ihr begegne, die Glaubenskraft unserer Brüder und Schwestern in den orthodoxen Kirchen. Ich habe mich in den vergangenen beiden Jahren, als ich für mein neues Buch „Jesus in Ägypten“ recherchierte,  recht intensiv gerade auch mit der koptischen Kirche Ägyptens befasst, die ihren Ursprung auf den Evangelisten Markus zurückführt. Tatsächlich war Alexandria, die Cathedra des hl. Markus, über Jahrhunderte hinweg das intellektuelle und theologische Zentrum der Christenheit. Selbst das Glaubensbekenntnis von Nizäa wurde von dem hl. Athanasius verfasst, der später zum Patriarch von Alexandria gewählt wurde und der, als er Jahre später aufgrund einer Intrige der Arianer nach Trier verbannt wurde, hierzulande im 4. Jahrhundert schon das Mönchtum einführte.  Dass die koptische Kirche im 5. Jahrhundert ihre eigenen Wege ging, sei mal jetzt außen vor gestellt, denn der Anlass, der Streit um die beiden Naturen des Herrn auf dem Konzil von Chalcedon, ist schon unter Papst Paul VI. beigelegt worden. 

   Was mich jedenfalls in Ägypten beeindruckte, war die tiefe Religiosität der Kopten, ihr unbedingtes Bekenntnis zu ihrem Glauben, obwohl sie in der mehrheitlich muslimischen Gesellschaft ihres Landes als Christen diskriminiert und oft genug drangsaliert werden
.
   Diese Kirche erlebte in den letzten Jahrzehnten ein regelrechtes Aufblühen vor allem auch des monastischen Lebens. Überall im Land wurden neue Klöster gebaut und eine ganze Generation junger Akademiker, ausgebildete Ärzte und Ingenieure, tritt dort ein – bei den Kopten muss man zunächst einen Beruf erlernt und gearbeitet haben, bevor man die Welt verlassen und in ein Kloster eintreten darf. Wie aber kam es zu dieser Renaissance des Glaubens bei den Kopten? Wo auch immer ich fragte, gab man mir die gleiche Antwort: Weil man sich intensiv um den Religionsunterricht für die Kinder und Jugendlichen gekümmert hat. Gerade weil in einem islamisch dominierten Staat die religiöse Erziehung der Kinder nicht in den Schulen stattfindet, haben kluge Kopten eine ganze Bewegung ins Leben gerufen, deren Aufgabe die Glaubensvermittlung an die kommende Generation war, die sogenannte „Sonntagsschulbewegung“. Kinder und Jugendlichen treffen sich in den Gemeindehäusern und lernen ihren Glauben. In diesem Milieu offenbarten sich sowohl seitens der Lehrer wie auch seitens der Schüler so viele religiöse Talente, dass die gesamte Kirche davon profitierte. Hinzu kam, dass in den Familien der Glaube viel intensiver gelebt wird als hierzulande. Dass man täglich gemeinsam betet und fastet – die Kopten fasten über 180 Tage im Jahr – und gemeinsam zur Kirche geht.

   Nun war ich selbst in meiner Jugend in der KJG und habe dort viel Sport und Spiel erlebt - was mir überhaupt nicht gefiel, weil ich immer schon unsportlich war -  aber die Vermittlung von Glaubenswissen und –praxis habe ich wirklich vermisst – und ich denke, nicht nur mir ging das so. So ganz erfolgreich waren die damals Verantwortlichen offenbar auch nicht, denn meine Generation ist nicht unbedingt dafür bekannt, dass sie besonders fromm geworden ist. Traurig! In der Wirtschaft sagt man, das beste Erfolgsmodell sei Spezialisierung, Besinnung auf die Kernkompetenz. Und in der kirchlichen Jugendarbeit wird der reinste Gemischtwarenladen angeboten, von allem etwas, überall wird etwas abgeschaut, statt dass man sich auf das Wesentliche konzentriert!   

    Die Kopten dagegen machen das ganz richtig. Sie grenzen sich bewusst von der Mainstream-Gesellschaft ab, weil sie ihrem Glauben gegenüber feindlich eingestellt ist. Dort sind das die Muslime. Aber wir dürfen uns doch bitte nicht einbilden, dass die „Diktatur des Relativismus“, in der wir leben, dem Glauben wohlgesonnen ist. Wir sind doch längst eine wenn auch nicht offen, so doch subtil diskriminierte Minderheit geworden in einer Gesellschaft, die uns entweder belächelt oder versucht, lächerlich zu machen. Verlassen wir uns bitte nicht auf den Religionsunterricht an den staatlichen Schulen, der alles Mögliche lehrt, aber nicht den Glauben unserer Kirche. Nehmen wir die Sache lieber selbst in die Hand und bieten eine solide Glaubensunterweisung auf der Grundlage des Katechismus bzw. des YOUCAT an, sorgen wir dafür, dass unseren Kindern unsere Werte vermittelt werden und nicht die Werte jener, die den Glauben ohnehin für überflüssig halten, einen privaten spleen bestenfalls, der sich aber bitte sehr dem Wertesystem einer materialistischen und relativistischen Gesellschaft unterzuordnen hat. Denn die wollen unseren Kindern doch gerade das religiöse Rückgrat brechen!  Bilden wir lieber bewusst eine Gegenkultur, statt uns so lange anzupassen, bis wir kaum mehr zu erkennen sind!

   Natürlich liegt die Verantwortung zuallererst bei den Familien. Ich bin im letzten Jahr relativ oft über die Familiengeschichte des Heiligen Vaters befragt worden, seit ich die Erinnerungen des Papstbruders Prälat Dr. Georg Ratzinger unter dem Titel „Mein Bruder, der Papst“ veröffentlichte. Sie erschienen auch in den USA, eine ganze Reihe von US-Rundfunksendern wollte Interviews und ich erklärte ihnen allen praktisch das selbe, was ich als „The Ratzinger Family Secret“ betitelte, um es anschaulicher zu machen. Und dieses „Familiengeheimnis der Ratzingers“ war ihre Kraftquelle, der Glaube. Der tiefe Glaube der Eltern prägte die ganze Familiendynamik. In Amerika sagt man, und ich liebe den Spruch: „A family which prays together, stays together“. Würde man den beherzigen, würden alle Ehe- und Familientherapeuten arbeitslos! Es würden auch die Scheidungsraten rapide sinken! Denn es gibt doch kein einziges Problem, das nicht durch das gemeinsame Gebet gelöst werden kann.

   Und, ganz ehrlich, schwerer als die Ratzingers es hatten kann es eine Familie heutzutage doch kaum haben. Das Geld war knapp, der Vater hatte einen gefährlichen Job als Landgendarm und über allem zog drohend der Nationalsozialismus auf, am Ende der Krieg. Doch über all das half ihr Glaube hinweg. Die für mich stärkste Szene in dem ganzen Buch ist, wie die Familie Ratzinger fast jeden Tag kniend auf dem Küchenboden den Rosenkranz betete. Vater Ratzinger betete vor. Dieses tägliche Gebet, neben dem regelmäßigen Kirchgang, schmiedete die Familie zusammen, machte sie immun gegen die Irrungen und Wirrungen ihrer Zeit, die braune Ideologie. Fest im Glauben verankert durchschaute Vater Ratzinger, dieser einfache, klare Mann, die Rattenfänger der Hitlerpartei. Als Hitler an die Macht kam, sagte er nur: „Es wird Krieg geben, wir brauchen ein Haus“. Glasklar und geradezu prophetisch.

   Denn wer glaubt, der fällt auch auf keine ideologischen Rattenfänger rein. Es gibt ja ganze Statistiken, die beweisen, dass die NSDAP in den wirklich katholischen Regionen Deutschlands nie eine Mehrheit hatte. Man blieb dem Glauben treu und beinahe trotzig wurden beide Söhne Priester. Und was für welche. Denn das ist das zweite Phänomen nach der Frage, wie diese einfache Familie die Hitlerdiktatur überstehen konnte, ohne von der NS-Ideologie infiziert zu werden. Wie konnten aus einer doch eher einfachen Familie – der Vater, wie gesagt, Landgendarm, die Mutter gelernte Köchin – zwei so geniale Söhne erwachsen, der eine ein begnadeter Komponist und Chorleiter von Weltrang – als Joseph Ratzinger noch Theologie lehrte, galt er als „der kleine Bruder des berühmten Chorleiters“ – und der andere der größte Theologe deutscher Sprache und heute der Nachfolger Petri. Wie konnten überhaupt so viele große Päpste auch ganz einfachen Familien entstammen?

   Die Antwort liegt in der inspirierenden Kraft des Glaubens und im Reichtum unserer katholischen Kultur. Sie trägt jeden, der feinsinnig und intelligent veranlagt ist, auf ihren Schwingen hinauf in die höchsten Höhen. Immerhin hat sie die größten Maler, Bildhauer und Komponisten aber auch die größten Wissenschaftler und Denker der Geschichte inspiriert. Wir haben einen so kostbaren Schatz in unserem katholischen Glauben und unserer katholischen Kultur, dass es eine echte Schande ist, wie wenig wir heute daraus machen, wie nachlässig wir damit umgehen. Der Hunger der Jugend ist doch da!

   Das beste Beispiel dafür ist NIGHTFEVER. Als 2005 der Weltjugendtag in Köln stattfand und der einst so schüchterne Kardinal Ratzinger erstmals als Nachfolger Petri über einer Million Jugendlichen gegenüberstand, saßen die meisten Journalisten im schönen, warmen Pressebüro im Kölner Messezentrum und haben sich das Maul darüber zerrissen, wie weltfremd doch der neue Papst sei. Da erzählt er doch in der Tat den Jugendlichen etwas von der Eucharistie, hält eine richtige kleine Vorlesung, als ob das noch etwas mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun hätte. Doch wer statt im warmen Pressebüro bei Kaffee und Sandwiches lieber vor Ort war, auf der grünen Wiese saß und zusammen mit all den Jugendlichen dem Papst zuhörte, dem fiel etwas ganz anderes auf: man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so aufmerksam, ja so fasziniert hörten sie ihm zu um gleich darauf das, worüber der Heilige Vater gesprochen hatte, zu praktizieren: Die Anbetung des Allerheiligsten. Denn auf die Papstpredigt folgte die vielleicht größte Anbetung des Altarsakraments in der deutschen Geschichte mit über einer Million Gläubigen, die das mit einer Ernsthaftigkeit und Hingabe taten, die tief berührte.  

   In dieser Nacht wurde das Schönste geboren, was der deutsche Katholizismus in diesem dritten Jahrtausend hervorgebracht hat – NIGHTFEVER. Nightfever ist so ungefähr das totale Gegenteil von dem, was BDKJ-Funktionäre glauben, was Jugendliche wollen. Darum ist Nightfever auch immer gut besucht, während der BDKJ deutliche Ermüdungserscheinungen aufweist. Für alle, die es nicht gestern Abend erlebt haben: Nightfever ist eine ganz traditionelle eucharistische Anbetung, mit der Monstranz auf dem Altar. Nur dass sie manchmal vier, fünf Stunden dauern kann. Dabei herrscht Dunkelheit, nur Kerzenlicht, und andächtige Stille. Jugendliche singen, sprechen Gebete. Jeder Einzelne tritt vor, begegnet dem Herrn in Seiner eucharistischen Gestalt. Priester, oft sogar in Beichtstühlen, laden zum Sakrament der Versöhnung ein. Und jeder, der Nightfever verlässt, ist zutiefst bereichert und beglückt: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen“ (Mt 11,28) – diese Worte des Herrn sind das eigentliche Motto von Nightfever.

   Die Begegnung mit dem Herrn kann so heilend sein, gerade auch in unserer unsicheren Zeit. Dabei ist so wichtig, dass wir den Glauben nicht relativieren. Dass wir wieder spüren, dass der Herr in der Tat in diesem Sakrament zugegen ist und wir es nicht bloß mit einer religiösen Symbolsprache zu tun haben, sondern mit den tiefen Geheimnissen Gottes, die sich wissenschaftlicher Logik entziehen, aber umso präsenter, realer und spürbarer sind. Da ist jeder Versuch einer Rationalisierung, auch wenn sie von Theologen betrieben wird und sich „Entmythologisierung“ nennt, ein Todesstoß für den lebendigen Glauben.

   Die Krise der Kirche, von der immer wieder gesprochen wird, ja die immer wieder beschworen wird, ist einzig und allein eine Krise des Glaubens. Der Heilige Vater hat dies erkannt und mit seiner Trilogie „Jesus von Nazareth“ den Gegenentwurf geliefert, nämlich eine theologisch brillante Exegese, die aber die Geheimnisse des Glaubens nicht negiert und rationalisiert, sondern vertieft. Die nicht den Evangelien ihren Wahrheitsgehalt abspricht, sie zu frommen Märchengeschichten erklärt, sondern ernst nimmt als Zeugnisse von Menschen, die nicht weniger erlebt haben als das Wirken Gottes. Oder, um es mit den Worten des hl. Petrus im 2. Petrusbrief zu sagen: „Denn wir sind nicht irgendwelchen klug ausgedachten Geschichten gefolgt, als wir euch die machtvolle Ankunft Jesu Christi, unseres Herrn, verkündeten, sondern wir waren Augenzeugen seiner Macht und Größe.“ (2 Petr 1,16)

   Solange wir die Grundlagen unseres Glaubens, die Evangelien, relativieren, wird unser Glaube selbst auf tönernen Füßen stehen.

   Die Erneuerung des Glaubens aber ist das Gebot der Stunde. Erneuerung durch Gebet, durch Empfang der Sakramente, durch die Begegnung mit dem Herrn. Erneuerung der Kirche durch die Familien, die Hauskirche, durch Vermittlung des Glaubens an Kinder und Jugendliche. Wenn wir uns diesen Aufgaben stellen, dann kann uns die Reevangelisierung Europas gelingen.

Dazu gehört aber auch, dass wir uns nicht verstecken. Und deshalb möchte ich doch auch das Kreuz nicht vergessen, heute, zwei Tage nach dem Fest der Kreuzerhöhung. Bringen wir es zurück in unser Leben. Tragen wir es stolz an unserer Brust, an unserem Revers, verstecken wir es nicht. Ich habe vorhin von den ägyptischen Kopten gesprochen, die seit 1400 Jahren in einer islamisch dominierten und damit ihnen feindlich gesinnten Umwelt überleben mussten. Einmal, im 9. Jahrhundert, verbot ihnen der Emir, der im Auftrag des Kalifen ihr Land verwaltete, Kreuze zu tragen. Aus Protest griffen sie zu einem drastischen Mittel, sie tätowierten sich das Kreuz auf die Hand. Dieser Brauch hat sich bis heute erhalten, nach wie vor trägt ein Großteil der Kopten ein tätowiertes Kreuz auf der Hand.

   Ich will damit bitte keine neue Mode kreieren. Aber ich will sagen: Wir dürfen uns nicht gefallen lassen, dass man uns das Kreuz wegnimmt, und sei es, indem es aus den öffentlichen Räumen verschwindet. Ich lade sie also ganz persönlich dazu ein, im Jahr des Glaubens auch ein Zeichen des Glaubens zu setzen, und Kreuze in unsere Welt zu pflanzen, ja zum Kreuzträger zu werden wie einst Simon von Cyrene. Wie wunderbar wäre es, wenn sich jeder von uns dafür stark macht, dass in jedem Klassenzimmer, in jedem Krankenhauszimmer, in jedem Gerichtssaal, jeder Amtsstube und über jedem Hotelbett bald wieder ein Kreuz hängt! Damit jeder von uns seine Erfahrungen mit dem Kreuz teilen und andere inspirieren kann, gibt es sogar auf dem Internet eine Facebook-Gruppe „Jahr des Kreuzes“, in die Sie hiermit alle von Herzen eingeladen sind. Auch sie steht im Zeichen der Glaubenserneuerung.

   Das Jahr des Glaubens, das unser Heiliger Vater in nicht einmal vier Wochen einläutet, ist ein Zeichen der Hoffnung für uns alle auf eine Kehrtwende, die Europa so dringend braucht. Wir müssen unsere Identität wiederfinden, wir müssen wieder Zugang bekommen zu der Quelle unserer einstigen Größe, unserer inneren Kraft, unserem Glauben. Dieser Kongress bürgt dafür und lässt uns spüren, welche Freude von ihm ausgehen kann. Tragen wir diese Freude am Glauben hinaus in unsere Welt, um sie in Christus zu erneuern!
Gott segne Sie alle und kommen Sie gut heim!